Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
an dem Du nicht landen willst.« Ich wollte mir nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, ob ich so viel arbeitete, weil ich keine eigene Familie hatte oder ob ich keine Familie hatte, weil ich so viel arbeitete. Ich hatte es satt, als Karrierefrau abgestempelt zu werden. Ich wollte einfach nicht länger zwischen zwölf und vierzehn Stunden am Tag mit meinem Beruf verbringen, um am Ende meiner Berufslaufbahn alleine und eine dieser unzufriedenen Modetanten zu sein.
Als ich in Münster ankam, hatte ich Entscheidungen gefällt, die mein Leben verändern sollten. Ich war mir ganz sicher. Ich wollte noch in der gleichen Woche kündigen, ich wollte die Modebranche verlassen und noch mal etwas ganz Neues beginnen. Was das sein könnte, darüber würde ich in aller Ruhe nachdenken und die Zeit würde mir dabei helfen. Kurz nach meinem letzten Arbeitstag wollte ich mich auf den Weg nach Santiago de Compostela machen und mich endgültig zu dem spirituellen Seminar zwischen den Jahren anmelden. Dem nächsten Mann, in den ich mich verlieben sollte, wollte ich von vornherein klaren Wein einschenken: »Eine eigene Familie ist für mich wichtig. An einer Beziehung nach dem Motto, wir schauen mal, was draus wird, und lassen alles ganz langsam auf uns zukommen, habe ich keinerlei Interesse.«
An dem Abend war mir innerlich zum Weinen und Lachen zumute. Ich fühlte mich befreit, gleichzeitig hatte ich Angst vor meiner eigenen Courage. Trotzdem oder gerade deswegen setzte ich alles, natürlich nur das, was ich selbst beeinflussen konnte, in die Tat um. In der gleichen Woche kündigte ich. Das spirituelle Seminar besuchte ich wie geplant zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein letzter Arbeitstag war gegen Ende April 2006, sodass ich am 21. Mai. 2006, meinem 41. Geburtstag, nach St. Jean-Pied-de-Port aufbrechen konnte, um endlich zum Grab des heiligen Jakobus zu pilgern.
Noch heute freue ich mich darüber, wie liebevoll und souverän mein Bruder und mein Vater auf meine Kündigung reagierten. Nachdem sie durch unser Gespräch klar verstanden hatten, wie ernst es mir war, versuchten sie auch nicht, mich von meinem Entschluss abzubringen. Mein Bruder sagte mir: »Ich arbeite gern mit dir zusammen, du machst deine Arbeit gut und gerne würde ich auch weiterhin mit dir zusammenarbeiten wollen. Ich werde dich aber trotzdem nicht überreden, bei uns zu bleiben, weil ich dann immer mit dem Gefühl leben müsste, dass du doch irgendwann gehst, und mit dieser Unsicherheit ist kein gutes Zusammenarbeiten möglich.« Für diese Worte war ich ihm sehr dankbar, weil sie mir in der folgenden Zeit bei aufkommenden Zweifeln immer wieder eine Hilfe waren. Die Wertschätzung meines Bruders tat gut, aber auch seine klare Aussage, dass die Firma für ihn Priorität habe, bestärkte mich. Letztendlich fühlte ich mich dadurch noch mehr bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn ich wollte dem, was mir wichtig war, mehr Priorität geben.
Bei meinem Vater hatte ich trotz seiner für mich positiven Reaktion das Gefühl, dass er auch ein wenig enttäuscht war, dass ich seine bisher gut funktionierende Nachfolgeregelung nun durcheinanderbrachte. Doch sein gesunder Pragmatismus und auch seine väterlichen Instinkte rückten schnell anderes in den Vordergrund. Er sorgte sich, wie auch später meine Mutter, sehr stark um die Folgen für mich. »Was willst du denn machen, welche Pläne hast du, wovon willst du auf Dauer leben?«, waren seine Fragen. Fragen, die ich mir natürlich auch stellte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich viele Ideen hätte, aber noch nichts Konkretes ins Auge gefasst hätte. Vielleicht studieren: Journalismus, Bibliothekswissenschaften, Literatur- oder Kommunikationswissenschaften. Meinen alten Traum ein Buch zu schreiben, in die Tat umsetzen. Mich sozial engagieren. Alles das, was mich als Abiturientin auch interessiert hatte. Vieles schwirrte in meinem Kopf herum, sortiert war noch nichts, wie denn auch, ich musste erst einmal diesen gravierenden Einschnitt überhaupt verarbeiten.
Wir hatten vereinbart, meine volle Kündigungszeit von einem halben Jahr auszuschöpfen, und ich hatte versprochen, erst dann zu gehen, wenn die Nachfolge feststand und ich sie eingearbeitet hatte. Bis dahin wollten wir den Mitarbeitern auch nichts sagen, um keine unnötige Unruhe aufkommen zu lassen. Ich hatte für mich beschlossen, mich mit meinem neuen Weg erst dann weiter auseinanderzusetzen, wenn der Kopf dafür so richtig
Weitere Kostenlose Bücher