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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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in
Erwägung, ehe er sich besann und einen solchen Schritt als zu gefährlich und
fast aussichtslos bezeichnete. Es war ein harter Schlag für sie, der sie noch
schwerer traf als Jasselins eigene Zeugungsunfähigkeit. Dieser arme kleine Hund
würde nicht nur auf Nachkommen verzichten müssen, sondern darüber hinaus auf
Geschlechtstrieb und jegliche sexuelle Befriedigung. Er war dazu verdammt, ein
eingeschränktes, zeitlich begrenztes Leben zu führen, ohne die Möglichkeit zu haben,
sich fortzupflanzen und dem elementaren Lockruf seiner Rasse zu folgen.
    Nach und nach fanden sie sich mit
diesem Gedanken ab, und zugleich wurde ihnen klar, dass das Sexualleben, das
ihrem kleinen Hund versagt war, ihm in keiner Weise fehlen würde. Hunde sind
generell nicht sonderlich hedonistisch veranlagt, zügellose Sitten wie auch
erotische Feinheiten sind ihnen fremd, und die Befriedigung, die sie beim
Koitus empfinden, entspricht nur einer kurzen, mechanischen Abreaktion des
natürlichen Selbsterhaltungstriebs der Gattung. Der Machtwille ist bei
Bolognesern ohnehin nicht sehr stark ausgeprägt, und als Michou von den letzten
Banden der Vermehrung des Genoms befreit war, wirkte er noch fügsamer, sanfter,
fröhlicher und reiner, als sein Vater es je gewesen war. Er war das ideale
Maskottchen, unschuldig und unbefleckt, dessen ganzes Leben an dem seiner
verehrten Gebieter hing – und für sie eine Quelle ständiger, ungebrochener
Freude. Jasselin ging damals auf die fünfzig zu. Wenn er zusah, wie dieses
kleine Wesen mit seinem Spielzeug auf dem Wohnzimmerteppich herumtollte,
überkamen ihn manchmal ungewollt düstere Gedanken. Vermutlich beeinflusst von
gewissen, in seiner Generation weitverbreiteten Vorstellungen, hatte er bis
dahin die Sexualität als positive Macht betrachtet, als Quelle der Vereinigung,
die die Eintracht unter den Menschen über den unschuldigen Weg des geteilten
Sinnengenusses erhöhte. Inzwischen aber sah er darin immer mehr ein Gefecht,
einen brutalen Kampf um die Herrschaft, die Ausschaltung eines Rivalen und eine
riskante Zunahme des Sexualverkehrs, dessen Existenzberechtigung ausschließlich
darin bestand, die maximale Verbreitung der Gene sicherzustellen. Er sah darin
die Quelle aller Konflikte, aller Massaker, allen Leids. Die Sexualität
erschien ihm immer mehr als unmittelbarer, offenkundiger Ausdruck des Bösen.
Und seine Berufserfahrung als Kriminalbeamter konnte das nur bestätigen: Das
Motiv fast aller Verbrechen war entweder Geld oder Sex, das eine oder das
andere, die Menschheit war anscheinend nicht imstande, darüber hinaus etwas
anderes zu ersinnen, zumindest was kriminelle Handlungen betraf. Der Fall, den
sie gerade zu bearbeiten hatten, wirkte auf den ersten Blick ganz originell,
aber es war das erste Mal seit drei Jahren, die kriminellen Motive der Menschen
waren im Allgemeinen ungemein einheitlich. Wie die meisten seiner Kollegen las
Jasselin nur selten Kriminalromane; dennoch war er im vergangenen Jahr auf ein
Buch gestoßen, bei dem es sich streng genommen nicht um einen Roman, sondern um
die Lebenserinnerungen eines ehemaligen Privatdetektivs handelte, der in
Bangkok tätig gewesen war und seine Laufbahn in Form von dreißig
Kurzgeschichten schilderte. In fast allen Fällen waren seine Auftraggeber
Männer aus der westlichen Welt, die sich unsterblich in eine junge Thailänderin
verliebt hatten und wissen wollten, ob sie ihnen während ihrer Abwesenheit treu
geblieben war, wie sie es ihnen zugesichert hatte. Fast in allen Fällen hatte
die junge Frau einen oder mehrere Liebhaber, mit denen sie das Geld der Männer
verprasste, und häufig noch ein Kind aus einer früheren Beziehung. In gewisser
Weise war es sicherlich ein schlechtes Buch, zumindest ein schlechter
Kriminalroman: Der Autor besaß nicht die geringste Phantasie und machte sich
nicht einmal die Mühe, Motive und Handlungsabläufe zu variieren; aber gerade
diese erdrückende Monotonie verlieh dem Buch einen realistischen, authentischen
Charakter, der einzigartig war.
    »Jean-Pierre!« Hélènes Stimme drang
wie aus weiter Ferne an sein Ohr, und als er wieder richtig zu sich kam, merkte
er, dass seine Frau mit offenem Haar im Hauskleid vor ihm stand, keinen Meter
entfernt. Er hielt noch immer Michou mit vor der Brust erhobenen Armen in den
Händen, schwer zu beurteilen, wie lange schon. Der kleine Hund blickte ihn
überrascht, aber furchtlos an.
    »Ist alles in Ordnung? Was machst du
denn für ein Gesicht?«
    »Ich hatte es

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