Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
heute mit einem
seltsamen Fall zu tun.«
Hélène verstummte und wartete, ob er
etwas mehr darüber verlauten lassen würde. In den fünfundzwanzig Jahren ihres
Zusammenlebens hatte ihr Mann so gut wie nie etwas aus seinem Berufsalltag
erzählt. Da die Kriminalbeamten täglich mit Abscheulichkeiten konfrontiert
waren, die das Maß des Erträglichen für Menschen von normaler Empfindsamkeit
überstieg, zogen es fast alle vor, darüber zu schweigen, sobald sie zu Hause
waren. Das beste Mittel, um nicht depressiv zu werden, bestand darin, komplett
abzuschalten, wenigstens am Feierabend zu versuchen, komplett abzuschalten.
Manche Kollegen suchten Zuflucht im Alkohol und beendeten das Abendessen in dumpfer
Benebelung, sodass sie sich anschließend nur noch ins Bett schleppen konnten.
Andere, vor allem jüngere Kollegen, suchten Zuflucht in Sinnenfreuden, um zu
versuchen, beim Liebesakt die Horrorvisionen gefolterter, verstümmelter Leichen
zu vergessen. Fast keiner von ihnen war bereit, darüber zu sprechen, und daher
ging auch Jasselin an jenem Abend, nachdem er Michou wieder hatte laufen
lassen, direkt zum Tisch, setzte sich an seinen gewohnten Platz und wartete,
dass seine Frau den Selleriesalat mit Remouladensoße brachte – Selleriesalat
mit Remouladensoße aß er für sein Leben gern.
V
A M NÄCHSTEN T AG GING ER zu Fuß zu seiner Dienststelle, bog in die Rue des
Fossés-Saint-Bernard ein und schlenderte dann am Ufer der Seine entlang. Er
blieb lange auf dem Pont de l’Archevêché stehen: Von dort aus hatte man, wie er
fand, den schönsten Blick auf Notre-Dame. Es war ein prächtiger Oktobermorgen,
die Luft war frisch und klar. Anschließend blieb
er noch eine Weile auf dem Square Jean- XXIII stehen, beobachtete die Touristen und die
Homosexuellen, die meist zu zweit dort spazieren gingen, sich küssten oder Hand
in Hand liefen.
Ferber kam fast zur gleichen Zeit
wie er in der Dienststelle an und holte ihn auf der Treppe vor dem
Kontrollposten im dritten Stock ein. Es würde im Quai des Orfèvres niemals
einen Fahrstuhl geben, sagte er sich resigniert und bemerkte, dass Ferber den
Schritt verlangsamt hatte, um ihn nicht auf dem letzten Treppenabschnitt zu
überholen.
Lartigue kam als Erster zu ihnen in
das Büro, das dem ganzen Team zur Verfügung stand. Er schien ziemlich
deprimiert, sein glattes Gesicht mit dem dunklen Teint eines Südfranzosen war
angespannt und sorgenvoll, obwohl er normalerweise ein recht fröhlicher Mensch
war. Ferber hatte ihn beauftragt, vor Ort Zeugenaussagen aufzunehmen.
»Totaler Flop«, verkündete er sofort.
»Ich habe nichts erfahren. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Und in den
letzten Wochen hat nicht mal jemand ein auswärtiges Fahrzeug im Dorf bemerkt.«
Messier traf ein paar Minuten später
ein, grüßte sie und legte den Rucksack, den er lässig über der rechten Schulter
hängen hatte, auf seinen Schreibtisch. Er war erst dreiundzwanzig und seit
sechs Monaten im Kriminaldezernat. Der Jüngste in ihrem Team. Ferber mochte ihn
gern und sah über seine zwanglose Kleidung hinweg, die im Allgemeinen aus
Trainingshose, Sweatshirt und Segeltuchjacke bestand und im Übrigen schlecht zu
seinem kantigen, strengen Gesicht passte, über das nur selten ein Lächeln
glitt; wenn er ihm manchmal nahelegte, seinen Bekleidungsstil zu ändern, war
das eher ein freundschaftlicher Rat. Messier holte sich eine Flasche Cola light
aus dem Getränkeautomaten, ehe er ihnen die Ergebnisse seiner Ermittlungen
mitteilte. Seine Züge waren noch angespannter als gewöhnlich, er sah aus, als
habe er die ganze Nacht nicht geschlafen.
»Mit dem Handy gab’s kein Problem«,
sagte er, »das hatte nicht mal einen PIN -Code. Aber dabei kam auch nichts Interessantes heraus.
Gespräche mit seiner Verlegerin, mit dem Typen, der ihm Heizöl liefern, und mit
einem anderen, der in seinem Haus Wärmedämmverglasung einsetzen sollte … Also
nur praktische oder berufliche Gespräche. Dieser Typ scheint überhaupt kein
Privatleben gehabt zu haben.«
Messiers Verwunderung war in gewisser
Weise unlogisch: Die Aufzeichnung seiner eigenen Telefongespräche wäre im Großen
und Ganzen auf das Gleiche hinausgelaufen. Allerdings hatte er nicht die
Absicht, sich ermorden zu lassen, und man vermutet eben immer, dass es im Leben
eines Mordopfers etwas gegeben hat, das die Tat rechtfertigt oder erklärt, dass
sich wenigstens in einem fernen Winkel seines Lebens irgendetwas Interessantes abgespielt hat.
»Bei dem
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