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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Arbeit leisteten. Die
Abzüge waren perfekt belichtet und trotz der Entfernung gestochen scharf, man
konnte das Gesicht jeder einzelnen Person, die zum Begräbnis des
Schriftstellers gekommen war, gut erkennen. Zusätzlich zu den Abzügen hatte er
einen USB -Stick
mit den Fotos in digitaler Form erhalten. Er schickte ihn sofort an die interne
Informatikabteilung, mit der Bitte, die Bilder mit der Datenbank erfasster
Straffälliger abzugleichen; sie verfügten inzwischen über ein Programm für
Gesichtserkennung, das es ihnen erlaubte, den Vorgang innerhalb weniger Minuten
durchzuführen. Er versprach sich nicht viel davon, aber man musste es
wenigstens versuchen.
    Das Ergebnis erhielt er gegen Abend,
als er im Begriff war, nach Hause zu gehen – es war wie erwartet negativ.
Gleichzeitig hatte die Informatikabteilung einen dreißigseitigen Bericht mit
der Inhaltsanalyse von Houellebecqs Computer beigelegt – dessen Codes sie
schließlich geknackt hatten. Er nahm den Bericht mit nach Hause, um ihn dort in
Ruhe studieren zu können.
    Er wurde vom Kläffen Michous
empfangen, der mindestens eine Viertelstunde lang Luftsprünge machte, und vom
Geruch von Kabeljau nach galizischer Art – Hélène bemühte sich, die
Geschmacksrichtungen zu variieren, von burgundischer zu elsässischer Küche, von
provenzalischen Gerichten zu denen aus dem Südwesten Frankreichs; sie verstand
es auch sehr gut, italienisch, türkisch oder marokkanisch zu kochen und hatte
sich zu einem vom Gemeindeamt des 5. Arrondissements veranstalteten
Einführungskurs in die Kochtraditionen aus dem Fernen Osten eingeschrieben. Er
ging auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen; sie trug ein
hübsches Seidenkleid. »Wenn du Lust hast, können wir in zehn Minuten essen«,
sagte sie. Sie machte einen entspannten, glücklichen Eindruck, wie immer, wenn
sie nicht an die Uni musste – die Herbstferien hatten gerade begonnen. Hélènes
Interesse für die Wirtschaftswissenschaften war im Lauf der Jahre ziemlich
erlahmt. Sämtliche Theorien, die wirtschaftliche Phänomene zu erklären und ihre
Entwicklung vorherzusagen versuchten, kamen ihr immer unbegründeter und gewagter
vor, sie neigte inzwischen dazu, sie für reinen Schwindel zu halten. Sie fand
es sogar überraschend, dass es überhaupt einen Wirtschaftsnobelpreis gab, als
könne diese Fachrichtung die gleiche methodologische Strenge und die gleiche
geistige Gewissenhaftigkeit wie Chemie oder Physik für sich in Anspruch nehmen.
Auch am Unterricht hatte sie nicht mehr so viel Freude wie früher. Überhaupt
interessierte sie sich nicht mehr für die heutige Jugend, das geistige Niveau
ihrer Studenten war erschreckend niedrig, man musste sich manchmal sogar
fragen, was sie dazu veranlasst hatte zu studieren. Die einzige Antwort darauf,
das wusste sie im Grunde, war ihr Wunsch, Geld zu verdienen, möglichst viel
Geld zu verdienen; trotz einer kurz aufflammenden Begeisterung für humanitäre
Belange war das das Einzige, was sie wirklich motivierte. Hélènes Berufsleben
bestand im Grunde daraus, karrieregeilen Dummköpfen absurdes, widersprüchliches
Zeug beizubringen, auch wenn sie es vermied, es sich in so deutlicher Form
einzugestehen. Sie hatte den Wunsch, eine vorzeitige Pensionierung zu
beantragen, sobald ihr Mann in den Ruhestand ging, doch er war in dieser
Hinsicht anderer Meinung, er liebte seine Arbeit wie eh und je, das Böse und
das Verbrechen waren in seinen Augen noch genauso dringliche, wesentliche
Probleme wie vor achtundzwanzig Jahren, als er in den Polizeidienst eingetreten
war.
    Er schaltete den Fernseher ein,
gleich würden die Nachrichten kommen. Michou sprang aufs Sofa und legte sich
neben ihn. Nach der Beschreibung eines besonders meuchlerischen Attentats von
palästinensischen Selbstmordkandidaten in Hebron ging der Sprecher zu der Krise
über, die seit mehreren Tagen die Börsenplätze ins Wanken brachte und die
manchen Fachleuten zufolge noch schlimmer zu werden drohte als jene von 2008.
Alles in allem eine sehr konventionelle Zusammenfassung. Er war im Begriff, das
Programm zu wechseln, als Hélène ihr Essen im Stich ließ und sich auf die
Armlehne des Sofas setzte. Er legte die Fernbedienung wieder zurück. Das war schließlich
ihr Arbeitsbereich, sagte er sich, vielleicht interessierte es sie doch ein
bisschen.
    Nach einem kurzen Überblick über die
bedeutendsten Finanzplätze war ein Experte zu Gast im Studio. Hélène hörte ihm mit einem
undefinierbaren Lächeln

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