Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
zwanzig zu nehmen. Diese auf einer rationalen Überlegung basierende
Entscheidung war vielleicht prinzipiell lobenswert, aber die Wirkung, die der
Anblick des Sarges hervorrief, den die beiden Angestellten über den Vorplatz
der Kirche trugen, war außerordentlich betrüblich. Jasselin hörte, wie Ferber
einen Schmerzenslaut unterdrückte, und ihm selbst schnürte sich dabei das Herz
zusammen, obwohl er äußerst abgehärtet war. Mehrere Anwesende brachen in Tränen
aus.
Während der Messe selbst langweilte er
sich wie gewöhnlich ungemein. Er hatte im Alter von zehn Jahren den Glauben
verloren und trotz der zahlreichen Beerdigungen, an denen er hatte teilnehmen
müssen, nie wieder Zugang zum Katholizismus gefunden. Im Grunde begriff er
überhaupt nichts, verstand nicht einmal, worauf der Priester hinauswollte; es
gab Anspielungen auf Jerusalem, die ihm unangebracht vorkamen, aber sie hatten
wohl einen symbolischen Sinn, sagte er sich. Er musste immerhin zugeben, dass
ihm der Ritus durchaus angemessen erschien und das Versprechen eines zukünftigen Lebens
in diesem Fall natürlich sehr willkommen war. Die Einmischung der Kirche im
Rahmen einer Beerdigung war im Grunde viel legitimer als bei Geburt oder
Hochzeit. Hier war die Kirche völlig in ihrem Element, hatte über den Tod
tatsächlich etwas zu sagen – bei der Liebe war das schon viel problematischer.
Normalerweise stellen sich die
Familienangehörigen neben den Sarg, um die Beileidsbezeugungen
entgegenzunehmen, doch hier gab es keine Familie. Gleich nachdem die Messe beendet
war, hoben daher die beiden Angestellten den kleinen Sarg wieder hoch –
abermals durchfuhr Jasselin ein betrübter Schauer – und trugen ihn zum
Leichenwagen. Zu seiner großen Überraschung standen auf dem Vorplatz etwa
fünfzig Personen, die darauf warteten, dass die Leute aus der Kirche kamen –
vermutlich Houellebecq-Leser, die gegen alle religiösen Zeremonien allergisch
waren.
Da keine besonderen Maßnahmen zur
Absperrung irgendwelcher Straßen oder zum Kanalisieren des Verkehrs getroffen worden
waren, fuhr der Leichenwagen ohne Umweg zum Friedhof Montparnasse, und die etwa
hundert versammelten Personen schlugen denselben Weg ein: über die Rue Guynemer
am Jardin du Luxembourg entlang, dann über die Rue Vavin, die Rue Bréa und ein
kurzes Stück auf dem Boulevard Raspail, ehe sie die Abkürzung über die Rue
Huyghens nahmen. Jasselin und Ferber hatten sich ihnen angeschlossen. Es waren Menschen
aller Altersstufen und aus allen Gesellschaftsschichten, meistens allein,
manche zu zweit; Leute, die im Grunde nichts Besonderes zu verbinden schien und
an denen sich kein gemeinsames Merkmal erkennen ließ. Jasselin hatte plötzlich
die Gewissheit, dass Ferber und er ihre Zeit verschwendeten. Es handelte sich
um Houellebecq-Leser und nichts anderes, es war unwahrscheinlich, dass sich
unter ihnen irgendjemand befand, der mit dem Mord etwas zu tun hatte. Dann eben
nicht, sagte er sich, wenigstens war es ein angenehmer Spaziergang; das Wetter
im Pariser Becken blieb weiterhin schön, der Himmel tiefblau, fast winterlich.
Die Totengräber hatten, vermutlich
auf Anraten des Priesters, bis zu ihrer Ankunft gewartet, ehe sie mit dem
Zuschaufeln begannen. Angesichts des offenen Grabes wuchs Jasselins Begeisterung
für Erdbestattungen, und zwar so weit, dass er den festen, endgültigen
Entschluss fasste, sich seinerseits dereinst in der Erde beisetzen zu lassen
und schon am nächsten Tag seinen Notar anzurufen, um das ausdrücklich in seinem
Testament festzulegen. Eine einzelne Frau um die dreißig warf eine weiße Rose
ins Grab – Frauen sind doch wirklich bewundernswert, sagte er sich, die denken
an Dinge, die keinem Mann in den Sinn gekommen wären. Bei Feuerbestattungen
hört man immer das Geratter der Senkvorrichtung, und die Gasbrenner machen
einen furchtbaren Lärm, während hier die Stille fast vollkommen war, bis auf das
beruhigende Geräusch der ins Grab geschaufelten Erde, die auf das Holz schlug
und auf der Oberfläche des Sarges sanft auseinanderfiel. In der Mitte des
Friedhofs war der Verkehrslärm kaum zu hören. Als sich das Grab allmählich mit
Erde füllte, wurde das Geräusch immer gedämpfter, immer schwächer. Dann wurde
die Marmorplatte daraufgelegt.
VIII
E R ERHIELT DIE F OTOS schon im Lauf des folgenden Vormittags. Die Techniker
des Erkennungsdienstes nervten Jasselin zwar mit ihrer Selbstgefälligkeit, aber
er musste zugeben, dass sie im Allgemeinen ausgezeichnete
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