Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Geldes
willen, ausschließlich deswegen; daher sei es im Allgemeinen auch so leicht,
sie zu fassen. Im Gegensatz dazu arbeite fast niemand ausschließlich um des Geldes
willen. Es gäbe immer noch andere Motivationen: das Interesse an der Arbeit,
die Anerkennung, die man dadurch bekommen könne, die freundschaftlichen
Beziehung zu den Kollegen … Und fast niemand habe ein völlig rationales
Kaufverhalten. Dass die wirtschaftlichen Theorien so unbegründet und letztlich schlichtweg
falsch waren, lag vermutlich daran, dass die Motivation der Erzeuger wie auch
die der Verbraucher völlig unbestimmbar sei. Beim Aufdecken von Verbrechen
hingegen konnte man fast wissenschaftlich oder zumindest äußerst rational
vorgehen. Hélène wusste darauf nichts zu erwidern. Die Existenz irrationaler
ökonomischer Faktoren war schon immer die Schattenseite , der blinde Fleck, aller Wirtschaftstheorien gewesen.
Auch wenn sie inzwischen großen Abstand zu ihrer Arbeit gewonnen hatte,
erlaubte ihr die Beschäftigung mit der Wirtschaftstheorie immerhin, ihren
Beitrag zu den Haushaltskosten zu leisten und ihren Status an der Universität
beizubehalten: Vorteile, die eher symbolischen Charakter hatten. Jean-Pierre hatte
recht, auch ihr Verhalten war nicht von rationalen
ökonomischen Faktoren bestimmt. Sie
entspannte sich auf dem Sofa und betrachtete ihren kleinen Hund, der in
ekstatischer Pose mit in die Luft gestreckten Pfoten auf der linken hinteren
Ecke des Wohnzimmerteppichs auf dem Rücken lag.
Später am Abend nahm sich Jasselin
den Bericht der Informatikabteilung über den Computer des Opfers vor. Als
Erstes hatten sie festgestellt, dass sich Houellebecq seinen Behauptungen in
zahlreichen Interviews zum Trotz noch bis zum Schluss dem Schreiben gewidmet
hatte; er hatte sogar sehr viel geschrieben. Aber was er schrieb, war ziemlich
seltsam: Es hatte Ähnlichkeit mit Poesie oder politischen Pamphleten,
jedenfalls begriff Jasselin so gut wie nichts von den im Bericht abgedruckten
Auszügen. Das schicken wir am besten seiner Verlegerin, sagte er sich.
Ansonsten enthielt der Computer kaum
etwas Nützliches. Houellebecq hatte die Adressbuch-Funktion seines Macintosh
benutzt. Der gesamte Inhalt seines Adressbuches war in dem Bericht
wiedergegeben, und es war ergreifend: Insgesamt waren dreiundzwanzig Namen
darin enthalten, darunter zwölf Künstler, ein paar Ärzte und einige andere
Dienstleister. Die Terminkalender-Funktion hatte er ebenfalls benutzt, und auch
da sah es nicht anders aus, er hatte sich im Allgemeinen Dinge wie »Müllsäcke«
oder »Heizöllieferung« notiert. Alles in allem hatte Jasselin selten jemanden
gesehen, der ein so beschissenes Leben führte. Auch sein Internet-Browser
verriet nichts Aufregendes. Houellebecq hatte weder pädophile noch pornographische
Websites besucht, seine gewagtesten Verbindungen waren die mit Websites für
Damenunterwäsche und Reizwäsche wie Belle et Sexy oder liberette.com gewesen. Der arme Kerl hatte sich also damit begnügt,
Mädchen in hautengen Miniröcken oder durchsichtigen Unterhemden anzustarren,
Jasselin schämte sich fast, die Seite gesehen zu haben. Die Aufklärung dieses
Verbrechens würde bestimmt nicht leicht werden. Normalerweise deuten die Laster
eines Menschen die Spur zu seinem Mörder an, seine Laster oder sein Geld. Geld
hatte Houellebecq zwar gehabt, wenn auch nicht so viel, wie Jasselin sich
vorgestellt hatte, aber anscheinend war nichts gestohlen worden, man hatte in
seinem Haus sogar sein Scheckheft, seine Kreditkarte und eine Brieftasche mit
mehreren hundert Euro gefunden. Er schlief in dem Moment ein, als er versuchte,
Houellebecqs politische Pamphlete noch einmal zu lesen, als hoffe er, darin eine
Erklärung oder einen Sinn zu finden.
IX
G LEICH AM NÄCHSTEN M ORGEN nahmen sie die elf Einträge in seinem Adressbuch unter
die Lupe, die persönliche Kontakte zu sein schienen. Abgesehen von Teresa
Cremisi und Frédéric Beigbeder, die sie bereits befragt hatten, waren es
ausschließlich Frauen.
Während SMS von den Telefonanbietern nur ein Jahr lang gespeichert
werden, gibt es bei E-Mails keine zeitliche Begrenzung, vor allem wenn der
Benutzer, wie Houellebecq, dafür nicht seinen eigenen Computer, sondern den Speicherplatz
in Anspruch nimmt, den ihm sein Provider zur Verfügung stellt; in diesem Fall
bleiben die Nachrichten sogar bei einem Wechsel der Hardware erhalten. Der
Provider me.com hatte Houellebecq eine persönliche Speicherkapazität von 40 GB
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