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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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klar, dass er die gegenwärtige Tendenz absolut nicht billigte, sich
einäschern und die Asche bescheiden in freier Natur verstreuen zu lassen, als
wolle man dadurch zum Ausdruck bringen, dass man wieder in ihren Schoß
zurückkehrte und sich mit den Elementen vermischte. Selbst seinen Hund, der vor
fünf Jahren gestorben war, hatte er unbedingt beerdigen wollen. Er hatte, bevor
er ihn mit Erde bedeckte, sogar ein Spielzeug neben den kleinen Kadaver gelegt,
das das Tier besonders geliebt hatte, und ihm schließlich ein schlichtes
Denkmal im Garten des Hauses seiner Eltern in der Bretagne gesetzt, in dem sein
Vater ein Jahr zuvor gestorben war. Er hatte das Haus übrigens nicht verkauft,
weil er mit dem Gedanken spielte, dass Hélène und er sich vielleicht eines Tages
dort zur Ruhe setzen könnten. Der Mensch war nicht Teil der Natur, er hatte sich
über die Natur erhoben, und auch der Hund hatte sich, seit er zum Haustier
geworden war, über sie erhoben, das war seine innerste Überzeugung. Und als er
weiter darüber nachdachte, erschien es ihm frevelhaft , obwohl er nicht an Gott glaubte, es erschien ihm anthropologisch betrachtet frevelhaft , die Asche eines Menschen auf Wiesen, über Flüssen
oder dem Meer und sogar im Auge eines Zyklons zu verstreuen, wie es sich der
Hanswurst Alain Gillot-Pétré gewünscht hatte, der seinerzeit, er erinnerte sich
noch, im Ruf stand, den Wetterbericht im Fernsehen aufgepeppt zu haben. Der Mensch zeichnete sich durch
sein Bewusstsein aus, ein einzigartiges, individuelles, unersetzbares
Bewusstsein, und verdiente damit ein Denkmal, eine Stele oder wenigstens eine
Inschrift, jedenfalls irgendetwas, das für die zukünftigen Jahrhunderte ein
Zeugnis seines Daseins ablegte, das war Jasselins innerste Überzeugung.
    »Sie treffen allmählich ein«,
sagte Ferber leise zu ihm und riss ihn aus seinem Grübeln. Obwohl es erst halb
elf war, hatten sich tatsächlich schon etwa dreißig Leute vor dem Eingang der Kirche
versammelt. Wer mochten diese Leute sein? Namenlose Leser von Houellebecq
vermutlich. Besonders bei aus Rache begangenen Morden kann es geschehen, dass
der Täter zur Beerdigung seines Opfers kommt. Jasselin hielt das in diesem Fall
für ziemlich unwahrscheinlich, dennoch hatte er zwei mit Teleobjektivkameras
ausgerüstete Fotografen des Erkennungsdienstes in eine Wohnung in der Rue
Froidevaux kommen lassen, aus der man einen guten Blick auf den Friedhof
Montparnasse hatte.
    Zehn Minuten später trafen sowohl
Teresa Cremisi als auch Frédéric Beigbeder zu Fuß ein. Als der Schriftsteller
Teresa Cremisi entdeckte, begrüßte er sie mit einem Kuss auf die Wangen. Sie
besaßen beide, dachte Jasselin, ein bemerkenswert angemessenes Äußeres. Die
Verlegerin mit ihren orientalischen Gesichtszügen hätte durchaus eines jener Klageweiber sein können, die
noch bis vor kurzem bei gewissen Beerdigungen im Mittelmeerraum eingesetzt
worden waren, und Beigbeder schien besonders düsteren Gedanken nachzuhängen.
Tatsächlich war der Autor von Ein französischer Roman zu diesem Zeitpunkt erst einundfünfzig Jahre alt, es
war vermutlich eine der ersten Beerdigungen von jemandem aus seiner Generation,
an der er teilnahm. Er sagte sich vielleicht, dass es bestimmt nicht die letzte
sei und dass die Telefongespräche mit seinen Freunden bald nicht mehr mit der
Frage »Was machst du heute Abend?« beginnen würden, sondern eher mit den Worten
»Rat mal, wer gestorben ist …«
    Jasselin und Ferber verließen
unauffällig das Gemeindeamt und mischten sich unter die Menge. Inzwischen
hatten sich etwa fünfzig Leute dort versammelt. Um fünf Minuten vor elf hielt
der Leichenwagen vor der Kirche – ein schlichter, schwarzer Kastenwagen des
beauftragten Bestattungsdienstes. In dem Augenblick, da die beiden Angestellten
den Sarg aus dem Fahrzeug holten, ging ein entsetztes, betroffenes Gemurmel
durch die Menge. Die Techniker des Erkennungsdienstes hatten die grässliche
Aufgabe übernehmen müssen, die am Tatort über den ganzen Boden verstreuten
Fleischklumpen einzusammeln und sie in hermetisch verschlossene, versiegelte
Plastiksäcke zu stecken, die sie mitsamt dem unversehrten Kopf nach Paris
geschickt hatten. Nachdem die Untersuchungen beendet waren, blieb nur noch ein
kompaktes Häufchen von viel geringerer Masse als der eines normalen
menschlichen Leichnams übrig, und die Angestellten des Bestattungsdienstes
hatten es als sinnvoll erachtet, einen Kindersarg mit einer Länge von einem
Meter

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