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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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eingeräumt; bei
gleichbleibendem Rhythmus seiner bisherigen Korrespondenz hätte er
siebentausend Jahre gebraucht, ehe der Speicherplatz voll gewesen wäre.
    Die Frage, ob E-Mails aus juristischer
Sicht privater Korrespondenz gleichzustellen sind oder nicht, hatte einen
richtigen Rechtsstreit ausgelöst. Jasselin beauftragte sofort sein ganzes Team
mit der Auswertung von Houellebecqs E-Mails, vor allem da in Kürze ein
Untersuchungsrichter mit dem Fall betraut würde, dem er den Stand der
Ermittlungen berichten musste. Während Staatsanwälte und deren Vertreter im
Allgemeinen großes Verständnis aufbrachten, konnten sich Untersuchungsrichter,
sogar bei Ermittlungen in Mordfällen, als echte Nervensägen entpuppen.
    Seine Männer arbeiteten fast zwanzig
Stunden am Tag – Houellebecq hatte kurz vor seinem Tod im Gegensatz zu früher nur
noch sehr wenig per Internet korrespondiert, aber zu manchen Zeiten, vor allem
direkt nach dem Erscheinen eines Buches, hatte er im Durchschnitt dreißig
E-Mails pro Tag erhalten – und konnten bereits am folgenden Donnerstag die neun
Frauen identifizieren. Die geographische Bandbreite war beeindruckend: eine
Spanierin, eine Russin, eine Chinesin, eine Tschechin, zwei Deutsche – und
immerhin drei Französinnen. Da entsann sich Jasselin wieder, dass er es mit
einem Autor zu tun hatte, der in fast alle Sprachen übersetzt war. »Das hat jedenfalls
sein Gutes«, sagte er zu Lartigue, der die Liste gerade fertiggestellt hatte.
Er sagte das eher, um sein Gewissen zu beruhigen, so wie man einen
unumgänglichen Scherz macht. In Wirklichkeit beneidete er den Schriftsteller
nicht im Geringsten. Alle waren ehemalige Geliebte, wie der Inhalt ihrer Korrespondenz
eindeutig belegte – bisweilen Geliebte aus alten Zeiten; in einigen Fällen lag
ihre Beziehung schon über dreißig Jahre zurück.
    Es erwies sich als einfach, diese
Frauen zu erreichen: Er stand noch mit allen in Kontakt, schrieb ihnen nette,
harmlose E-Mails, in denen er die kleinen oder großen Qualen des Lebens
heraufbeschwor und manchmal auch dessen Freuden.
    Die drei Französinnen erklärten sich
sofort bereit, in die Dienststelle am Quai des Orfèvres zu kommen – dabei lebte
eine von ihnen in Perpignan, die zweite in Bordeaux und die dritte in Orléans.
Die Ausländerinnen sagten im Übrigen auch nicht Nein, sie baten nur um etwas
Zeit, um die Reise zu organisieren.
    Jasselin und Ferber empfingen sie
getrennt, um ihre Eindrücke vergleichen zu können, und ihre Eindrücke waren
bemerkenswert übereinstimmend. All diese Frauen empfanden noch eine zärtliche
Liebe für Houellebecq. »Wir standen noch per E-Mail in Kontakt, ziemlich
regelmäßig«, sagten sie. Jasselin sagte ihnen nicht, dass er die E-Mails
gelesen hatte. Nie war die Möglichkeit einer erneuten Begegnung in Betracht
gezogen worden, aber man spürte, dass die Frauen ihr gegebenenfalls wohl zugestimmt
hätten. Es war erschreckend, sagte er sich, richtig erschreckend: Frauen
vergessen ihre ehemaligen Liebhaber nie, das kam hier ganz deutlich zum Ausdruck.
Auch Hélène hatte ehemalige Liebhaber – obwohl sie noch relativ jung gewesen war,
als er sie kennengelernt hatte, hatte sie vor ihm schon andere Liebhaber
gehabt; was würde geschehen, wenn sie ihnen erneut begegnete? Das ist der
Nachteil an polizeilichen Ermittlungen, man wird plötzlich ungewollt mit
unangenehmen persönlichen Fragen konfrontiert. Aber im Hinblick auf die Suche
nach dem Mörder brachte ihnen das nichts. Diese Frauen hatten Houellebecq
gekannt, hatten ihn sogar sehr gut gekannt, doch Jasselin spürte, dass sie mehr
nicht sagen würden – damit hatte er gerechnet, Frauen sind in solchen Dingen
immer sehr zurückhaltend, selbst wenn sie nicht mehr verliebt sind, bleibt
ihnen die Erinnerung an diese Liebe unendlich kostbar – aber wie auch immer,
sie hatten ihn seit Jahren, manche sogar seit Jahrzehnten nicht wiedergesehen,
und allein die Vorstellung, sie könnten daran denken, ihn zu ermorden, oder sie
könnten jemanden kennen, der ihn ermorden wollte, war grotesk.
    Ein Ehemann, ein eifersüchtiger
Liebhaber nach so langer Zeit? Daran glaubte er keine Sekunde. Wenn jemand
weiß, dass seine Frau vor ihm schon andere Liebhaber gehabt hat und er das Pech
hat, eifersüchtig auf sie zu sein, weiß er dennoch genau, dass es nichts nützt,
sie umzubringen – das würde die Wunde nur erneut aufreißen. Nun ja, er würde
trotzdem jemanden aus seinem Team dieser Sache nachgehen lassen – jedoch

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