Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Vater schüchtern hinzu.
Am folgenden Tag, im Verlauf der
Totenmesse, an der das ganze Dorf teilnahm, und anschließend vor der Kirche, in
dem Moment, da sie die Beileidsbezeugungen entgegennahmen, sagte sich Jed, dass
sein Vater und er sich den Umständen bemerkenswert gut angepasst hatten. Blass
und abgespannt, beide in dunklen Anzügen, hatten sie keinerlei Mühe, den Ernst
und die resignierte Trauer zu vermitteln, die der Anlass erforderte, ja sie
schätzten sogar, ohne der Sache inhaltlich wirklich zustimmen zu können, die
Note diskreter Hoffnung, die der Priester zum Ausdruck gebracht hatte; er war
selbst schon recht betagt, ein alter Routinier auf dem Feld der Beerdigungen – angesichts des
Durchschnittsalters der Dorfbevölkerung vermutlich bei weitem seine
Hauptbeschäftigung.
Als sie wieder im Haus der Großmutter
waren, wo der Ehrentrunk serviert wurde, fiel Jed auf, dass er hier zum ersten
Mal an einer richtigen Beerdigung in altem Stil teilgenommen hatte, einer Beerdigung, die die Realität
des Todes nicht zu kaschieren versuchte. In Paris hatte er mehreren
Feuerbestattungen beigewohnt, zuletzt der eines Kommilitonen von der École des
Beaux-Arts, der auf einer Urlaubsreise nach Lambok bei einem Flugzeugabsturz
umgekommen war; es hatte ihn schockiert, dass einige der Anwesenden vor der
Einäscherung ihr Handy nicht ausgeschaltet hatten.
Sein Vater fuhr gleich
anschließend wieder zurück, er hatte am folgenden Morgen eine berufliche
Verabredung in Paris. Jed betrat den Garten. Die Sonne ging unter, die
Rücklichter des Mercedes verschwanden in Richtung der Nationalstraße, und er
dachte an Geneviève zurück. Sie war ein paar Jahre lang seine Geliebte gewesen,
als er an der École des Beaux-Arts studiert hatte; tatsächlich war sie sogar
die erste Frau gewesen, mit der er geschlafen hatte. Geneviève stammte aus
Madagaskar, und sie hatte ihm von den seltsamen Exhumierungsriten erzählt, die
in ihrem Land praktiziert wurden. Eine Woche nach dem Tod grub man die Leiche
wieder aus, wickelte die Tücher ab, in die sie gehüllt war, und nahm in ihrer
Gegenwart im Esszimmer der Familie eine Mahlzeit ein. Dann begrub man sie wieder.
Nach einem Monat und dann nach drei weiteren nahm man jeweils die gleiche
Zeremonie vor; er erinnerte sich nicht mehr so genau, aber ihm schien, dass
wenigstens sieben aufeinander folgende Exhumierungen stattfanden, die letzte
ein Jahr nach dem Tod. Erst dann wurde der Verstorbene als endgültig tot
angesehen und der ewigen Ruhe überlassen. Diese Bereitschaft zur Hinnahme des
Todes und der physischen Realität des Leichnams stand in krassem Gegensatz zur
modernen westlichen Sensibilität, sagte sich Jed und bedauerte flüchtig, dass
er Geneviève hatte gehen lassen. Sie war sanft und friedlich gewesen; damals
hatte er oft an furchtbarer Migräne gelitten, und sie hatte, ohne sich zu
langweilen, stundenlang an seinem Bett gewacht, ihm das Essen zubereitet und
ihm Wasser und Medikamente gebracht. Was ihr Temperament anging, war sie recht heißblütig gewesen, und auf
sexueller Ebene hatte sie ihm alles beigebracht. Jed mochte ihre Zeichnungen,
die ein wenig vom Graffiti-Writing inspiriert waren, sich aber durch den kindlichen,
fröhlichen Charakter ihrer Figuren und die etwas stärker abgerundete Schrift
davon unterschieden, sowie durch die Palette der Farben, die sie verwendete –
viel Kadmiumrot, Indischgelb und Siena natur oder gebrannt.
Um ihr Studium zu finanzieren, bot sie ihre Reize feil , wie
man früher gesagt hätte; Jed fand, dass dieser veraltete Ausdruck besser zu ihr
passte als der angelsächsische Begriff »Escort Girl«. Sie nahm
zweihundertfünfzig Euro die Stunde und einen Aufpreis von hundert Euro für
Analverkehr. Er hatte gegen diese Tätigkeit nichts einzuwenden und schlug ihr
sogar vor, erotische Fotos von ihr zu machen, um die Präsentation ihrer Website
zu verbessern. Obwohl Männer oft eifersüchtig, teilweise ganz furchtbar
eifersüchtig auf die Exmänner ihrer Geliebten sind, obwohl sie nicht umhin
können, sich jahrelang und manchmal bis zu ihrem Tod beklommen zu fragen, ob es
für ihre Geliebte nicht besser war mit dem anderen, ob der andere nicht besser im Bett war, akzeptieren
sie im Allgemeinen sehr leicht, ohne die geringste Anstrengung, all die Dinge,
die ihre Frau früher im Rahmen der Prostitution getan hat. Sobald eine sexuelle
Betätigung an eine finanzielle Transaktion gebunden ist, wird sie entschuldigt,
als harmlos angesehen und durch
Weitere Kostenlose Bücher