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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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aus,
in deren Verlauf seine tägliche Abwechslung im Wesentlichen darin bestand, sich Fragen an den Champion anzusehen, eine Sendung, die Julien Lepers moderierte. Durch seine
Hartnäckigkeit und seine unglaubliche Arbeitswut war dieser anfangs ziemlich
unbegabte, ein wenig dümmliche Fernsehmoderator mit den Gesichtszügen und der
Gefräßigkeit eines Schafbocks, der zunächst eigentlich als Schlagersänger hatte
Karriere machen wollen und vermutlich insgeheim immer noch von einer gewissen
Sehnsucht danach erfüllt war, nach und nach zu einer der populärsten Gestalten
der französischen Medienlandschaft geworden. Die Leute erkannten sich in ihm
wieder, Studenten aus dem ersten Studienjahr der École Polytechnique wie auch
pensionierte Grundschullehrerinnen aus dem Departement Pas-de-Calais,
Motorradfahrer aus dem Landstrich Limousin wie auch Gastwirte aus dem
Departement Var; er war weder beeindruckend noch distanziert, sondern
vermittelte ein mittelmäßiges, fast sympathisches Bild, das genau in das
Frankreich der Jahre um 2010 passte. Jed, der eigentlich ein Fan von
Jean-Pierre Foucault war, seine Menschlichkeit und seine pfiffige
Ungezwungenheit schätzte, musste dennoch zugeben, dass Julien Lepers ihn immer
öfter faszinierte.
    Anfang Oktober erhielt Jed einen
Anruf von seinem Vater, der ihm mitteilte, dass Jeds Großmutter gestorben war.
Er sprach mit langsamer Stimme und wirkte ein wenig niedergedrückt, aber kaum
stärker als gewöhnlich. Jeds Großmutter hatte sich, wie er wusste, nie vom Tod
ihres Mannes erholt, den sie zutiefst geliebt hatte, ja sogar mit einer
Leidenschaft, die in ihrem ärmlichen, ländlichen Milieu, das sich im
Allgemeinen nicht durch romantische Ergüsse auszeichnete, überraschend war.
Nach seinem Tod hatte nichts und niemand, nicht einmal ihr Enkel, sie aus einer
Spirale der Trauer herausreißen können, die sie nach und nach auf jede
Tätigkeit verzichten ließ, von der Kaninchenzucht bis hin zum Einkochen von
Marmelade; schließlich hatte sie sogar die Gartenarbeit aufgegeben.
    Jeds Vater müsse schon am folgenden
Tag in die Creuse fahren, um an der Beerdigung teilzunehmen und sich
anschließend um das Haus und die Erbschaftsangelegenheiten zu kümmern; er sähe
es gern, wenn sein Sohn ihn begleiten könne. Ehrlich gesagt wäre es ihm sogar
lieb, wenn dieser etwas länger dort bleiben und sich um alle Formalitäten
kümmern könne, denn er habe im Moment sehr viel Arbeit in der Firma. Jed sagte
sofort zu.
    Am folgenden Morgen holte Jeds
Vater ihn mit seinem Mercedes ab. Gegen elf Uhr fuhren sie auf die A20, eine
der schönsten Autobahnen Frankreichs, eine von jenen, die durch äußerst
harmonische Landschaften führen. Das Wetter war klar und mild, mit einem leicht
dunstigen Horizont. Um fünfzehn Uhr machten sie kurz vor La Souterraine an
einer Raststätte Halt. Auf die Bitte seines Vaters hin, der unterdessen tankte,
kaufte Jed eine Straßenkarte von Creuse und Haute-Vienne aus der Reihe
»Departementalkarten« von Michelin. Und als er dort, ein paar Schritte von den
in Zellophan gehüllten Sandwiches entfernt, seine Karte auseinanderfaltete,
wurde ihm seine zweite große ästhetische Offenbarung zuteil. Diese Karte war
geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer
zu zittern. Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an
Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und
Haute-Vienne im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der
wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der
Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war
komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte
Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend
dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben,
Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die
anderen zum ewigen Leben berufen waren.
    Der Leichnam seiner Großmutter
ruhte bereits in einem Eichensarg. Sie trug ein dunkles Kleid, ihre Augen waren
geschlossen, die Hände gefaltet. Die Angestellten des Bestattungsinstituts
hatten nur noch auf die beiden gewartet, um den Sarg schließen zu können. Sie
ließen sie gut zehn Minuten allein im Raum. »Es ist besser so für sie«, sagte
sein Vater nach einer Weile des Schweigens. Ja, vermutlich, dachte Jed. »Sie
glaubte an Gott, weißt du«, fügte sein

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