Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Notar hatte nicht
die Absicht, ihm zum Verkauf des Hauses zu raten. Noch vor zwei oder drei
Jahren hätte er, wie er gestand, anders reagiert. Damals breiteten sich die
englischen Trader, die altjungen englischen Trader im Ruhestand, von der Dordogne
kommend, die sie quasi kolonisiert hatten, wie ein Ölteppich in Richtung
Bordeaux und Zentralmassiv aus und drangen schnell vor, wobei sie bereits eingenommene
Stellungen als Stützpunkte benutzten. Den zentralen Teil des Limousin hatten
sie schon fest in der Hand, und man musste damit rechnen, dass sie in Kürze in
der Creuse auftauchten und die Preise dementsprechend in die Höhe schossen.
Doch der Kurssturz an der Londoner Börse, die Krise der subprimes und der
Zusammenbruch der spekulativen Werte hatten die Situation völlig verändert: Die altjungen englischen Trader, die inzwischen längst nicht mehr daran dachten, sich einen
reizenden Landsitz einzurichten, hatten plötzlich große Mühe, die Raten für ihr
Haus in Kensington zu zahlen, und dachten daher immer öfter daran weiterzuverkaufen ; der langen
Rede kurzer Sinn: Die Preise waren rapide gefallen. Jetzt müsse man, zumindest
war das die Diagnose des Notars, die Ankunft einer neuen Generation von Reichen
abwarten, mit soliderem, auf industrieller Produktion basierendem Reichtum. Das
könnten Chinesen oder Vietnamesen sein, wie solle er das wissen, aber wie dem
auch sei – das Beste, so scheine ihm, sei es, erst einmal zu warten, das Haus
instand zu halten und eventuell ein paar Schönheitsreparaturen vorzunehmen, die
jedoch auf jeden Fall die lokale Handwerkstradition respektieren sollten.
Unnötig sei es dagegen, luxuriöse Renovierungsarbeiten vorzunehmen, wie etwa
einen Swimmingpool oder Whirlpool, oder einen Internetanschluss zu legen; die
Neureichen zögen es stets vor, diese Arbeiten selbst ausführen zu lassen,
sobald sie ein Haus gekauft hatten, da sei er sich ganz sicher, das könne er
aus Erfahrung sagen, immerhin übe er den Notarsberuf seit vierzig Jahren aus.
Als ihn sein Vater am
darauffolgenden Wochenende abholte, war alles geregelt, die Sachen sortiert und
weggeräumt, die kleinen, testamentarisch festgelegten Geschenke an die Nachbarn
verteilt. Sie hatten das Gefühl, dass ihre Mutter bzw. Großmutter nun in Frieden ruhen konnte, wie
man so schön sagt. Jed entspannte sich in dem Sitz aus Nappaleder, während die S-Klasse
mit einem zufriedenen mechanischen Schnurren in die Autobahnauffahrt einbog.
Zwei Stunden lang fuhren sie in gemäßigtem Tempo durch eine Landschaft in
herbstlichen Tönen, sie sprachen wenig, aber Jed hatte den Eindruck, dass ein
gewisses Einvernehmen zwischen ihnen entstanden war, eine Übereinstimmung
darüber, wie man ganz allgemein das Leben anpacken müsse. In dem Augenblick, da
sie sich der Abfahrt Melun-Mitte näherten, begriff er, dass diese Woche für ihn
ein friedliches Zwischenspiel gewesen war.
III
M AN HAT VON J ED M ARTINS Arbeit oft behauptet, sie sei das Ergebnis einer
kühlen, distanzierten Reflexion über den Zustand der Welt, und hat ihn in
gewisser Weise als Nachfahren der großen Konzeptkünstler des vorigen Jahrhunderts
dargestellt. Nichtsdestoweniger befand er sich in einem Zustand höchster
nervlicher Erregung, als er gleich nach seiner Rückkehr nach Paris alle
Michelin-Karten aufkaufte, die er finden konnte – es waren mehr als
einhundertfünfzig. Ihm wurde schnell klar, dass die interessantesten aus der
Reihe »Regionalkarten« stammten, die für einen Großteil Europas existierten,
und vor allem aus der auf Frankreich begrenzten Reihe »Departementalkarten«. Er
wandte sich von der analogen Fotografie ab, die er bisher ausschließlich
praktiziert hatte, und kaufte sich ein BetterLight-6000- HS -Scanrückteil, das es
erlaubte, 48-Bit-Dateien im RGB -Modus mit einer Auflösung von 6000 x 8000 Pixeln zu
erstellen.
Sechs Monate lang verließ er nur
selten das Haus, außer für seinen täglichen Spaziergang, der ihn zum
Casino-Supermarkt am Boulevard Vincent-Auriol führte. Die Kontakte zu seinen
Kommilitonen der École des Beaux-Arts, die schon während seines Studiums nicht
sehr zahlreich gewesen waren, wurden immer spärlicher, bis sie ganz endeten,
und daher war er überrascht, als er Anfang März eine E-Mail erhielt, in der man
ihm vorschlug, an einer Sammelausstellung mit dem Titel Lasst uns höflich bleiben teilzunehmen, die im Mai von der Stiftung der Firma Ricard veranstaltet wurde.
Dennoch sagte er umgehend zu, ohne sich bewusst zu
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