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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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war – das war
ihr übrigens nie im Leben passiert, auch wenn es wohl vorgekommen sein mochte,
dass sie bei einer von M6 übertragenen Modenschau Kate Moss flüchtig um ihre
Wangenknochen oder Naomi Campbell um ihren Hintern beneidet hatte. Olga hatte Marilyn
sicher nur deshalb gewählt, weil diese im Ruf stand, ausgezeichnete
Pressearbeit zu leisten, im Bereich der zeitgenössischen Kunst wurde sie sogar
als die fähigste Pressefrau angesehen – zumindest auf dem französischen Markt.
    »Ich bin sehr erfreut darüber, an
diesem Projekt mitzuarbeiten«, verkündete Marilyn mit weinerlicher Stimme.
»Höchst erfreut.«
    Olga saß zusammengesunken neben ihr,
um sich möglichst klein zu machen; sie fühlte sich furchtbar gehemmt und führte
die beiden schließlich in einen kleinen Tagungsraum neben ihrem Büro. »Hier
könnt ihr in Ruhe weiterarbeiten«, sagte sie, ehe sie erleichtert verschwand.
Marilyn holte einen großen Terminkalender im Format 21 x 29,7 und zwei Päckchen
Papiertaschentücher hervor und fuhr dann fort: »Ich habe ursprünglich
Geographie studiert. Dann bin ich auf Humangeographie umgestiegen. Und jetzt
kümmere ich mich ganz um menschliche Belange. Jedenfalls, insofern man so etwas
noch als menschliche Wesen bezeichnen kann …«, sagte sie einschränkend.
    Als Erstes wollte sie wissen, ob es in
den Printmedien für ihn irgendein absolutes must gäbe. Das war nicht der Fall; tatsächlich konnte sich
Jed überhaupt nicht daran erinnern, je im Leben eine Zeitung oder eine
Zeitschrift gekauft zu haben. Er sah gern fern, vor allem morgens war das
Zappen zwischen Zeichentrickfilmen und Börsennachrichten sehr entspannend, und
wenn ihn ein Thema besonders interessierte, ging er ins Internet; aber die
Printmedien erschienen ihm als ein seltsames Relikt früherer Zeiten, das
vermutlich schon sehr bald dazu verdammt war, von der Bildfläche zu
verschwinden, und für das er sich jedenfalls nicht im Geringsten interessierte.
    »Okay …«, erwiderte Marilyn
zurückhaltend. »Dann darf ich also davon ausgehen, dass ich freie Hand habe.«

V
    S IE HATTE TATSÄCHLICH freie Hand, und sie machte auf vortreffliche Weise
Gebrauch davon. Als sie am Abend der Vernissage den in der Avenue de Breteuil
gelegenen Ausstellungsraum betraten, verschlug es Olga zunächst die Sprache.
»Es sind erstaunlich viele Leute da«, sagte sie schließlich, sichtlich beeindruckt.
»Ja, die Leute sind gekommen«, bestätigte Marilyn mit heimlicher Zufriedenheit,
in der erstaunlicherweise leichter Groll mitzuschwingen schien. Es waren über
hundert Leute da, aber in Wirklichkeit wollte sie damit sagen: Es sind zwar
viele Leute da, aber woher soll man schon wissen, ob es wichtige Leute sind?
Die einzige Person, die Jed erkannte, war Patrick Forestier, Olgas direkter
Vorgesetzter, der für die Öffentlichkeitsarbeit von Michelin France
verantwortlich war; ein Absolvent der École Polytechnique in Reinkultur, der
drei Stunden lang versucht hatte, sich einen Künstlerlook draufzuschaffen, und dabei seine gesamte Garderobe
durchprobiert hatte, um schließlich mit einem seiner üblichen grauen Anzüge
vorliebzunehmen – allerdings ohne Krawatte.
    Der Eingang zur Ausstellung war halb
von einer großen Tafel versperrt, die zu beiden Seiten einen Durchgang von zwei
Metern Breite freiließ und auf der nebeneinander ein Satellitenfoto von der
Umgebung des Großen Belchen und die Vergrößerung einer Michelin-Departementalkarte
vom selben Gebiet zu sehen waren. Der Kontrast war frappierend: Während auf dem
Satellitenfoto nur eine Suppe aus mit verschwommenen bläulichen Flecken
übersäten, mehr oder weniger einheitlichen Grüntönen zu erkennen war, zeigte
die Karte ein faszinierendes Netz von Landstraßen, landschaftlich schönen Strecken,
Aussichtspunkten, Wäldern, Seen und Pässen. Über den beiden Fotos stand in
schwarzen Lettern der Titel der Ausstellung: » DIE KARTE IST INTERESSANTER ALS DAS GEBIET .«
    Im eigentlichen Ausstellungsraum
hatte Jed an großen, mobilen Stellwänden etwa dreißig großformatige Fotos
aufgehängt – die ausschließlich Departementalkarten von Michelin zum Gegenstand
hatten, dabei aber die unterschiedlichsten geographischen Bereiche abdeckten,
vom Hochgebirge bis zur bretonischen Küste, von der normannischen
Bocage-Landschaft bis zu den Getreideanbaugebieten im Departement Eure-et-Loir.
Immer noch von Olga und Jed flankiert, blieb Marilyn auf der Schwelle zum
Ausstellungsraum stehen und beobachtete das

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