Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
seien
die Probleme, denen man bei der Benutzung stark vergrößernder Teleobjektive
begegne), aber Leute, die Straßenkarten fotografierten, nein, das sei ihm neu.
Nachdem Jed zunächst ein wenig herumgedruckst hatte, sagte er schließlich, ja,
in gewisser Hinsicht könne man sagen, er sei Künstler .
»Hahahaaaa!« Der Schriftsteller brach
in so übertrieben lautes Lachen aus, dass sich etwa ein Dutzend Leute umwandte,
unter ihnen auch Olga. »Aber ja, natürlich, man muss Künstler sein! Mit Literatur sitzt man heutzutage auf dem
falschen Dampfer! Um mit den schönsten Frauen zu schlafen, muss man eben Künstler sein! Ich wäre auch
gern Künst-ler !«
Zur Überraschung aller breitete er
daraufhin die Arme aus und stimmte laut und mehr oder weniger korrekt den
Refrain des »Blues du businessman« an, einer leicht ironischen Hymne auf den
Künstler:
J’aurais voulu être un artiiiiste
Pour avoir le monde à refaire
Pour pouvoir être un anarchiiiiste
Et vivre comme un millionnaire! 1
Das Wodkaglas zitterte in seiner
Hand. Die Hälfte der Anwesenden hatte sich inzwischen nach ihnen umgewandt.
Dann ließ er die Arme sinken, fügte in verstörtem Tonfall hinzu: »Text von Luc
Plamondon, Musik von Michel Berger« und begann zu schluchzen.
»Na, das lief ja super mit
Frédéric«, sagte Olga zu ihm, während sie zu Fuß über den Boulevard
Saint-Germain zurückgingen. »Ja …«, erwiderte Jed etwas ratlos. Unter den
Büchern, die er während seiner Schulzeit im Jesuitenkolleg gelesen hatte, waren
auch realistische französische Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert gewesen,
in denen junge ehrgeizige Männer es manchmal durch
Frauen zu etwas bringen , aber er war
überrascht, sich in einer ähnlichen Situation zu befinden, und ehrlich gesagt
hatte er diese französischen Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert fast völlig
vergessen, denn seit einigen Jahren las er nur noch Romane von Agatha Christie
und von Agatha Christies Romanen vor allem jene, in denen Hercule Poirot
auftrat; unter den gegenwärtigen Umständen half ihm das kaum weiter.
Jetzt war er endlich lanciert , und Olga konnte
ihren Chef ohne große Mühe dazu überreden, Jeds erste Ausstellung in den Räumlichkeiten
der Firma in der Avenue de Breteuil zu veranstalten. Er besichtigte den
Ausstellungsraum, der zwar sehr groß, aber ziemlich trist war – Wände und Boden
bestanden aus grauem Beton, doch dieser karge Rahmen erschien ihm durchaus
geeignet. Er machte keinerlei Änderungsvorschläge, bat nur darum, dass im
Eingang zusätzlich eine große Tafel aufgestellt werde. Dafür gab er sehr
präzise Anweisungen, was die Beleuchtung betraf, und kam in jeder Woche vorbei,
um zu überprüfen, ob diese bis ins Einzelne befolgt wurden.
Die Vernissage sollte am 28. Januar
stattfinden, ein geschickt gewähltes Datum – die Kritiker waren dann längst aus
den Winterferien zurück und hatten genug Zeit für die Planung gehabt. Das für
das kalte Buffet bewilligte Budget war durchaus angemessen. Jed erlebte seine
erste echte Überraschung, als er die Pressedame kennenlernte: Einem
weitverbreiteten Klischee folgend, hatte er sich Pressedamen immer als richtige Sexbomben vorgestellt und war überrascht, als er sich einem kränklichen, mageren, fast
buckligen Häufchen Elend gegenübersah. Die Frau trug den unpassenden Vornamen
Marilyn und schien auch noch ziemlich neurotisch zu sein – während ihres
gesamten ersten Gesprächs wickelte sie sich ängstlich Strähnen ihres langen,
glatten Haars um die Finger, bis diese schließlich Knoten bildeten, die sie
anschließend mit einem kräftigen Ruck abriss. Ihr lief unentwegt die Nase, und
in ihrer riesigen Handtasche, die eher einer Einkaufstasche glich,
transportierte sie über ein Dutzend Päckchen Papiertaschentücher – das entsprach
in etwa ihrem täglichen Verbrauch. Die Begegnung fand in Olgas Büro statt, und
es war richtiggehend peinlich, dieses traumhafte Wesen mit der unendlich
begehrenswerten Figur neben diesem armen kleinen Weiblein mit seiner
unerkundeten Scheide zu sehen; Jed fragte sich sogar eine Sekunde, ob Olga sie
nicht gerade wegen ihrer Hässlichkeit gewählt hatte, um jede weibliche
Konkurrenz in ihrer Umgebung auszuschließen. Aber nein, ganz gewiss nicht, sie
war sich ihrer eigenen Schönheit viel zu sehr bewusst, außerdem war sie viel zu
objektiv, um sich in einer Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituation zu fühlen,
wenn sie in ihrer Überlegenheit objektiv betrachtet nicht bedroht
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