Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Gewühl aus Journalisten, bekannten
Persönlichkeiten und Kritikern, ähnlich wie ein Raubtier eine Antilopenherde an
der Tränke beobachtet.
»Pépita Bourguignon ist da«, sagte sie
schließlich mit einem kurzen höhnischen Kichern.
»Bourguignon?«, fragte Jed.
»Die Kunstkritikerin von Le Monde .«
Fast hätte er die blöde Frage
gestellt: »Von wem?«, aber dann erinnerte er sich daran, dass es sich dabei um
eine Abendzeitung handelte, und nahm sich vor, für den Rest des Abends zu
schweigen, soweit das ging. Aber sobald er sich von Marilyn losgeeist hatte,
konnte er friedlich und ungestört zwischen seinen Fotos umherschlendern, ohne
von jemandem als der Künstler wiedererkannt zu werden und sogar ohne dass er
versucht hätte, den Kommentaren zuzuhören. Er hatte den Eindruck, dass das
Stimmengewirr im Vergleich zu anderen Vernissagen nicht ganz so laut war; es
herrschte eine konzentrierte, fast andächtige Atmosphäre, viele Leute
betrachteten die Werke, das war vermutlich ein gutes Zeichen. Patrick Forestier
war einer der wenigen, die ein überschwängliches Verhalten an den Tag legten:Mit einem Glas Champagner in der Hand drehte er sich um die eigene Achse, um
seinen Zuhörerkreis zu erweitern, und beglückwünschte sich lautstark zum »Ende
des Missverständnisses zwischen Michelin und der Kunstwelt«.
Drei Tage später tauchte Marilyn
in dem Tagungsraum neben Olgas Büro auf, wo Jed sich hingesetzt hatte, um sich
über die Reaktionen zu informieren. Aus ihrer Einkaufstasche kramte sie ein
Päckchen Papiertaschentücher und die jüngste Ausgabe von Le Monde hervor.
»Haben Sie das noch nicht gelesen?«,
rief sie mit ungewohnt großer Erregung. »Na, dann habe ich ja gut daran getan
zu kommen.«
Der von Patrick Kéchichian verfasste
Artikel – eine ganze Seite mit einer sehr schönen farbigen Wiedergabe von Jeds
Foto der Departementalkarte Dordogne und Lot – war geradezu eine Lobeshymne.
Gleich in den ersten Zeilen setzte er den Standpunkt des Betrachters der Karte
– oder des Satellitenfotos – mit dem Standpunkt Gottes gleich. »Mit der
gelassenen Ruhe großer Revolutionäre«, schrieb er, »wendet sich der Künstler – ein
noch junger Mann – schon auf dem uns im Eingangsbereich erwartenden Werk, mit
dem er uns einen ersten Einblick in sein Universum verschafft, von dem
naturalistischen, neopaganistischen Weltbild ab, mit dem sich unsere
Zeitgenossen herumschlagen, um das Bild des ABWESENDEN wiederzufinden. Nicht ohne einen Hauch von
Dreistigkeit nimmt er den Standpunkt Gottes ein, der an der Seite des Menschen
an der (Re-)Konstruktion der Welt teilhat.« Anschließend stellte er ausführlich
die einzelnen Werke vor und bewies dabei erstaunlich gute technische
Kenntnisse, was die Fotografie anging, ehe er den Artikel mit folgenden Sätzen
beendete: »Jed Martin hat zwischen der mystischen Vereinigung mit der Welt und
der rationalen Theologie seine Wahl getroffen. Er hat vielleicht als Erster in
der westlichen Kunst seit den großen Malern der Renaissance den nächtlichen
Versuchungen der Hildegard von Bingen die schwierigen, aber klaren Lehren des
›stummen Ochsen‹, wie Thomas von Aquin von seinen Mitschülern an der Kölner
Klosterschule genannt wurde, vorgezogen. Auch wenn diese Wahl natürlich
anfechtbar ist, steht die hohe Gesinnung, die sie impliziert, außer Zweifel.
Damit kündigen sich die künstlerischen Events dieses Jahres auf jeden Fall
unter verheißungsvollen Auspizien an.«
»Gar nicht so blöd, was er da
schreibt«, meinte Jed.
Sie blickte ihn empört an. »Dieser
Artikel ist spitze!«, erwiderte sie streng. »Es ist natürlich seltsam, dass
Kéchichian ihn verfasst hat, normalerweise schreibt er nur Buchkritiken. Dabei
war Pépita Bourguignon auf der Vernissage …« Sie wirkte ein paar Sekunden etwas
hilflos, doch dann sagte sie in entschiedenem Ton: »Jedenfalls ist mir eine
ganze Seite von Kéchichian lieber als eine Kurzbesprechung von Bourguignon.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
»Jetzt geht es erst richtig los. Es
wird immer mehr Artikel geben.«
Sie feierten das Ereignis noch am
selben Abend im Restaurant Chez Anthony et Georges . »Man spricht im Moment sehr viel über Sie …«,
flüsterte Georges ihm zu, während er Olga aus dem Mantel half. Gastwirte lieben
Prominente, sie verfolgen kulturelle und mondäne Ereignisse mit großer
Aufmerksamkeit in der Tagespresse, da sie wissen, dass die Anwesenheit von
Prominenten in ihrem Restaurant eine starke
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