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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Anziehungskraft auf die Bevölkerungsschicht
der reichen Schwachköpfe ausüben kann, die sie bevorzugt als Gäste zu gewinnen
versuchen; und Prominente lieben im Allgemeinen Restaurants, sodass sich eine
Art von natürlicher Symbiose zwischen Gastwirten und Prominenten einstellt. Jed
nahm als frischgebackener Mini-Promi ohne Schwierigkeit die seinem neuen Status
angemessene Haltung bescheidener Gleichgültigkeit ein, was Georges als Experte
für Halbprominente mit einem dankbaren Lächeln würdigte. An jenem Abend war das
Restaurant leer bis auf ein koreanisches Paar, das ziemlich bald ging. Olga
entschied sich für ein Gazpacho mit Rucola und einen halbgar gekochten Hummer mit
Yamswurzelpüree, Jed für ganz kurz in der Pfanne angebratene Jakobsmuscheln und
ein Steinbuttsoufflé mit Kümmel und Edelcrassaneschaum. Während des Desserts
setzte sich Anthony in seiner Küchenschürze zu ihnen und streckte ihnen eine
Flasche Bas-Armagnac von Castarède, Jahrgang 1905, entgegen. »Das geht auf
meine Rechnung«, sagte er außer Atem, ehe er ihre Gläser füllte. Dem Weinführer
von Rothenstein und Bowles zufolge bestach dieser Jahrgang durch seinen edlen, vollmundigen
Charakter und seine Eleganz. Im Abgang war er mit seinem Backpflaumenaroma und
einem typischen Rancio-Geschmack charakteristisch für einen jahrelang in Eichenfässern
gelagerten Weinbrand: langanhaltende Geschmacksempfindung und Nachgeschmack von
altem Leder. Anthony war seit ihrem letzten Besuch etwas rundlicher geworden,
das war wohl unvermeidlich, die Testosteronproduktion nimmt mit
fortschreitendem Alter ab und die Fettmasse zu, er kam allmählich ins kritische
Alter.
    Olga sog den Duft des Weinbrands lange
und genüsslich ein, ehe sie an ihm nippte; sie passte sich den französischen
Sitten erstaunlich gut an, es war schwer zu glauben, dass sie ihre Kindheit in
einer Sozialwohnung am Stadtrand von Moskau verbracht hatte.
    »Wie erklärt es sich eigentlich«,
fragte sie, nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatte, »dass die neuen
Küchenchefs, ich meine, die Küchenchefs, über die man spricht, fast alle
homosexuell sind?«
    »Haaa!« Anthony reckte sich wollüstig
auf seinem Stuhl und ließ entzückt den Blick durch sein Restaurant schweifen.
»Weißt du, mein Schatz, das ist das große Geheimnis, denn die Homosexuellen waren
schon immer richtig ver- rückt aufs Kochen, schon seit jeher, aber niemand hat das je
gesagt, absolut nie- mand. Was meiner Meinung nach den Ausschlag gegeben hat, sind die drei
Sterne, die Frank Pichon bekommen hat. Dass ein transsexueller Küchenchef drei
Sterne im Michelin-Führer ergattern konnte, das war wirklich stark!« Er trank
einen Schluck und schien über vergangene Zeiten nachzusinnen. »Und dann«, fuhr
er außerordentlich lebhaft fort, »und dann gab es natürlich noch eine Sache,
die alles ausgelöst hat, die wie eine Bombe eingeschlagen ist, nämlich das
Outing von Jean-Pierre Pernaut!«
    »Ja, okay, das Outing von Jean-Pierre
Pernaut war schon eine irre Geschichte«, gab Georges widerwillig zu. »Aber
weißt du, Tony«, fuhr er mit zischender, fast zänkischer Stimme fort, »im
Grunde hat sich nicht die Gesellschaft geweigert, homosexuelle Köche zu
akzeptieren, sondern die Homosexuellen haben sich geweigert, sich als Köche zu
akzeptieren. Erinnere dich doch nur mal daran, wie das bei uns gelaufen ist:
Über uns ist nicht eine Zeile in Têtu veröffentlicht worden, kein Wort, der erste Artikel
über unser Restaurant ist in Le Parisien erschienen. In der traditionellen Schwulenszene
herrschte die Ansicht, es sei nicht glamourös genug, in die Gastronomie einzusteigen.
Für sie war das zu spießig , genau, zu spießig !« Jed hatte plötzlich die Eingebung, dass sich
Georges’ sichtlicher Groll unter anderem gegen Anthonys Speckfalten richtete
und dass auch er sich irgendwie nach vergangenen vorkulinarischen Lack-und-Leder -Zeiten
zurücksehnte. Nun ja, es war wohl besser, das Thema zu wechseln, daher kam er
noch einmal geschickt auf Jean-Pierre Pernauts Outing zu sprechen, ein starkes
Thema, das sich geradezu anbot; er selbst als Fernsehzuschauer sei zutiefst
erschüttert gewesen, das live vor den Kameras von France 2 geflüsterte
Geständnis »Ja, das stimmt, ich liebe David« werde in seinen Augen eines der
Highlights der Fernsehkultur in den Jahren um 2010 bleiben. Darauf konnten sich
alle schnell einigen, Anthony spendierte eine weitere Runde Bas-Armagnac. »Ich
definiere mich vor allem als

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