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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Filme mit Tom Cruise zu konsumieren. Das
trifft zwar weitgehend zu, aber eine Minorität unter ihnen hatte auch den
Wunsch, einen Pouilly-Fuissé zu kosten oder die Sainte-Chapelle zu besichtigen. Aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer
Allgemeinbildung gehörte Olga dieser Elite an. Ihr Vater, ein Biologe an der
Universität Moskau, war Spezialist für Insekten – ein sibirischer Falter trug
sogar seinen Namen. Weder er noch seine Familie hatten wirklich von der großen
Zerstückelung profitiert, die nach dem Niedergang des Reiches stattgefunden
hatte; sie waren aber auch nicht im Elend versunken, die Universität, an der er
unterrichtete, verfügte noch über akzeptable Mittel, und nach ein paar Jahren
der Ungewissheit hatte sich ihre Zugehörigkeit zur Mittelschicht einigermaßen gefestigt – aber dass Olga auf relativ
großem Fuß in Paris leben, sich eine Zweizimmerwohnung in der Rue Guynemer
mieten und sich Markenkleidung leisten konnte, verdankte sie ausschließlich
ihrem Gehalt bei Michelin.
    Nachdem sie zu einem Liebespaar
geworden waren, etablierte sich rasch ein bestimmter Rhythmus. Jed verließ ihre
Wohnung morgens zur selben Zeit wie sie. Während sie in ihren MINI Park Lane stieg, um
zu ihrer Arbeitsstelle in der Avenue de la Grande-Armée zu fahren, begab er
sich mit der Metro zu seinem Atelier am Boulevard de l’Hôpital. Abends kehrte
er im Allgemeinen kurz vor ihr in ihre Wohnung zurück.
    Sie gingen viel aus. Olga lebte seit
zwei Jahren in Paris und hatte es ohne große Mühe verstanden, ein dichtes Netz
von Sozialkontakten aufzubauen. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit hatte sie
viel mit Presse und Medien zu tun – wenn auch auf dem nicht sehr glamourösen
Sektor touristischer und gastronomischer Chroniken. Aber eine junge Frau von
ihrer Schönheit hatte sowieso zu allen Kreisen Zugang, war überall gern
gesehen. Überhaupt war es erstaunlich, dass sie zu dem Zeitpunkt, da sie Jed
kennengelernt hatte, keinen festen Liebhaber hatte, und noch erstaunlicher war,
dass sie ausgerechnet ihn auserkor. Er war zwar im Grunde ein hübscher Kerl, aber
eher klein und schmächtig, was Frauen im Allgemeinen nicht unbedingt schätzten
– das Ideal des virilen Rohlings, der gut im Bett ist, war seit einigen Jahren wieder stark im Kommen;
allerdings war es mehr als eine reine Modeerscheinung, sondern eher eine
Rückkehr zu den Grundprinzipien der Natur, zur sexuellen Anziehung in ihrer
elementarsten und brutalsten Form, daher war auch die Zeit der magersüchtigen
Models eindeutig vorbei, und auch allzu üppige Frauen fanden nur noch Interesse
bei ein paar Afrikanern und ein paar perversen Typen. Das beginnende dritte
Jahrtausend kehrte nach diversen Schwankungen, die im Übrigen nie sehr groß
gewesen waren, in allen Bereichen zur Vergötterung eines simplen, bewährten
Modells zurück: zur Schönheit, die sich bei der Frau in vollendeter Entfaltung
und beim Mann in körperlicher Stärke ausdrückte. Diese Situation gereichte Jed
nicht unbedingt zum Vorteil. Seine künstlerische Karriere hatte auch nichts
Beeindruckendes – er war im Grunde nicht einmal ein richtiger Künstler , denn er hatte nie
eine Ausstellung gehabt, kein Artikel war je erschienen, in dem seine Arbeit
gewürdigt und seine Bedeutung der Welt offenbart worden wäre, er war zu jener
Zeit so gut wie unbekannt. Ja, Olgas Wahl war verwunderlich, und auch Jed hätte
sich sicher darüber gewundert, wenn seine Natur ihm erlaubt hätte, sich über
solche Dinge zu wundern oder sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
    Wie dem auch sei, innerhalb weniger
Wochen wurde er zu mehr Vernissagen, Vorpremieren und literarischen Cocktails eingeladen
als in all den Jahren, in denen er an der École des Beaux-Arts studiert hatte.
Er lernte sehr rasch, sich in angemessener Weise zu verhalten. Man musste nicht
unbedingt brillant sein, meistens war es sogar besser, gar nichts zu sagen, aber
es war unerlässlich, seinem Gesprächspartner zuzuhören, ihm voller Ernst und
Mitgefühl zuzuhören und manchmal die Unterhaltung durch ein »Wirklich?« wieder
in Gang zu bringen, das den Zweck verfolgte, Interesse oder Überraschung zu
zeigen, oder durch ein »Absolut«, in dem eine verständnisvolle Zustimmung zum
Ausdruck kam. Jeds geringe Körpergröße erleichterte es ihm zudem, eine
Unterwerfungshaltung einzunehmen, die im Allgemeinen von Kulturreferenten sehr
geschätzt wurde – wie auch von so ziemlich allen anderen. Es war im Grunde ein
leicht zugängliches Milieu,

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