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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Fernsehzuschauer!«, rief Jed in einer Anwandlung
von Verbrüderung, die ihm einen überraschten Blick von Olga einbrachte.

VI
    E INEN M ONAT DARAUF betrat Marilyn mit ihrer Einkaufstasche, die noch
schwerer beladen war als üblich, das Büro. Nachdem sie sich dreimal die Nase
geputzt hatte, legte sie Jed ein dickes, von Gummibändern zusammengehaltenes
Dossier auf den Tisch.
    »Das ist die Presse«, sagte sie
schließlich, da er nicht reagierte.
    Er betrachtete den Papphefter mit
leerem Blick, ohne ihn aufzuschlagen. »Und wie ist sie?«, fragte er.
    »Ausgezeichnet. Sie haben alle was
gebracht.« Sie schien sich darüber nicht sonderlich zu freuen. Hinter der
verschnupften Fassade dieser kleinen Frau verbarg sich eine Kämpfernatur, eine
Spezialistin für Kommandounternehmen : Sie war Feuer und Flamme, wenn es darum ging, eine
Operation in Gang zu setzen, den ersten großen Artikel zu bekommen; doch
anschließend, wenn die Sache ins Rollen gekommen war, verfiel sie wieder in
jämmerliche Apathie. Sie redete immer leiser, und Jed hatte Mühe, sie zu
verstehen, als sie hinzufügte: »Nur Pépita Bourguignon hat nichts geschrieben.«
    »Also gut«, sagte sie zum
Abschluss traurig. »Es war schön, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
    »Sehen wir uns nicht mehr wieder?«
    »Wenn Sie mich brauchen, gern. Sie
haben ja meine Handynummer.«
    Sie verabschiedete sich und ging
wieder einem ungewissen Schicksal entgegen – man hatte wirklich den Eindruck,
sie werde sich einen Kräutertee kochen und sofort wieder ins Bett legen. Als
sie durch den Türrahmen ging, wandte sie sich noch ein letztes Mal um und sagte
mit tonloser Stimme: »Ich glaube, das war einer der größten Erfolge meines
Lebens.«
    Die Kritik war tatsächlich, wie Jed
beim Durchblättern der Artikel feststellte, voller Lob, und zwar ungewöhnlich
einhellig. Es kommt in den zeitgenössischen Gesellschaften zuweilen vor, dass
Modeerscheinungen, obwohl zahlreiche Journalisten ihnen hartnäckig nachspüren,
um sie schon in ihren Anfangsstadien auszumachen oder sie nach Möglichkeit gar
zu kreieren, sich auf wilde, anarchische Weise entwickeln und verbreiten, ehe
man ihnen einen Namen gegeben hat – tatsächlich ist das seit der massiven
Verbreitung von Internetanschlüssen und dem damit verbundenen Niedergang der
Printmedien immer häufiger der Fall. Der in ganz Frankreich zunehmende Erfolg
von Kochkursen, die seit kurzem zu beobachtende Entstehung lokaler Wettbewerbe,
um die Kreation neuer Fleisch- und Wurstwaren oder neuer Käsesorten
auszuzeichnen, die massive, unaufhaltsame Entwicklung der Wanderbewegung und
schließlich das Outing von Jean-Pierre Pernaut – all das trug zu einem neuen
soziologischen Sachverhalt bei: Zum ersten Mal seit Jean-Jacques Rousseau wurde
in Frankreich alles Regionale wieder trendy . Dieser Tatbestand schien der französischen
Gesellschaft ganz plötzlich, vermittelt durch die wichtigsten Tageszeitungen
und Zeitschriften, bewusst zu werden, und zwar innerhalb weniger Wochen nach
dem Beginn von Jeds Ausstellung. Und die Michelin-Karte, ein an sich völlig
unbemerkter Gebrauchsgegenstand, wurde innerhalb derselben Wochen zum
bevorzugten Einführungsmaterial dessen, was die Tageszeitung Libération ohne sich zu
schämen die »Magie des Regionalen« nennen sollte.
    Patrick Forestiers Büro, durch
dessen Fenster man den Arc de Triomphe sehen konnte, war auf geschickte Weise
modulierbar: Man brauchte nur ein paar Elemente zu verschieben, um dort eine
Konferenz, eine Filmvorführung oder einen Brunch veranstalten zu können, und
all das auf einem letztlich ziemlich begrenzten Raum von siebzig Quadratmetern.
Eine Mikrowelle erlaubte es, Gerichte aufzuwärmen, und man konnte dort sogar
schlafen. Um Jed zu empfangen, hatte Forestier die Form des »Arbeitsfrühstücks«
gewählt; Obstsäfte, Frühstücksgebäck und Kaffe erwarteten sie auf einem
niedrigen Tisch.
    Er breitete die Arme weit aus, um Jed
zu begrüßen, und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich wusste, dass es ein
Erfolg wird … Ich wusste es von Anfang an!«, rief er, was Olga zufolge, die Jed
vor dem Treffen ein kurzes Briefing gegeben hatte, zumindest übertrieben war.
»Aber … nach diesem erfolgreichen Versuch müssen wir jetzt den Ball über
die Linie bringen!« (Er bewegte die Arme
schnell hin und her, um, wie Jed sofort begriff, eine Ballabgabe beim Rugby zu
imitieren.) »Nehmen Sie Platz.« Sie setzten sich auf die beiden Sofas, die den
niedrigen Tisch umgaben; Jed

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