Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
vorstellen. Sie sind ein guter Künstler, so viel
lässt sich sagen, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Ich sage Ihnen, wie die
Sache ausgeht: Ich bin Tausende von Malen fotografiert worden, aber wenn ein
Bild von mir, nur ein einziges, in den kommenden Jahrhunderten erhalten bleiben
wird, dann wird es Ihr Gemälde sein.« Plötzlich ging ein jugendliches Lächeln,
das diesmal tatsächlich entwaffnend war, über sein Gesicht. »Sehen Sie, ich nehme die
Malerei sehr ernst …«, sagte er. Dann schloss er die Tür.
V
J ED STOLPERTE ÜBER EINEN Kinderwagen, hielt sich im letzten Augenblick am
Metalldetektorportal fest und ging ein paar Schritte zurück, um sich wieder in
die Schlange einzureihen. Außer ihm befanden sich dort nur Familien, jeweils
mit zwei oder drei Kindern. Vor ihm jammerte ein etwa vierjähriger Blondschopf,
verlangte nach wer weiß was und warf sich plötzlich vor Wut zitternd mit lautem
Geschrei auf den Boden; seine Mutter wechselte einen müden Blick mit ihrem
Mann, der sich bemühte, das ungezogene kleine Aas wieder auf die Beine zu
stellen. Einen Roman zu schreiben, hatte Houellebecq ihm am Tag zuvor gesagt,
ist aus demselben Grund unmöglich, weshalb es unmöglich ist zu leben: wegen der
ständig zunehmenden Schwerfälligkeit. Und alle Theorien der Freiheit von Gide
bis Sartre sind nur immoralistische Konstrukte, die verantwortungslose
Junggesellen ersonnen haben. Wie ich, hatte er hinzugefügt, ehe er seine dritte
Flasche chilenischen Wein in Angriff nahm.
Es gab keine zugeteilten Sitzplätze im
Flugzeug, und beim Einsteigen versuchte sich Jed einer Gruppe von Jugendlichen
anzuschließen, aber er wurde am Fuß der Gangway zurückgehalten – sein
Handgepäck war zu groß, er musste es dem Flugpersonal übergeben –, und so war
er gezwungen, sich mit einem Platz in der Nähe des Mittelgangs zu begnügen,
eingezwängt zwischen einem fünfjährigen Mädchen, das auf seinem Sitz hin und
her rutschte und ständig nach Bonbons verlangte, und einer dicken Frau mit
stumpfem Haar, die ein Baby auf dem Schoß hatte, das kurz nach dem Start zu
brüllen begann; eine halbe Stunde später mussten die Windeln des Babys
gewechselt werden.
Am Ausgang des Flughafens
Beauvais-Tillé blieb er stehen, setzte seine Reisetasche ab und holte tief
Luft, um sich wieder ein wenig zu sammeln. Die Familien mit Kinderwagen und Kindern
drängten sich vor dem Bus, der zur Porte Maillot fuhr. Direkt daneben stand ein
weißer Kleinbus mit großen Fenstern, der das Logo des Verkehrsverbunds der
Stadt Beauvais trug. Jed näherte sich, um sich zu erkundigen: Es sei der
Shuttle-Service nach Beauvais, erklärte ihm der Fahrer, die Fahrt koste zwei
Euro. Jed kaufte sich einen Fahrschein; er war der einzige Fahrgast.
»Soll ich Sie am Bahnhof absetzen?«,
fragte ihn der Mann ein wenig später.
»Nein, im Stadtzentrum.«
Der Fahrer warf ihm einen erstaunten
Blick zu. Die Nähe des Flughafens schien offensichtlich kaum positive Auswirkungen
auf den Tourismus in Beauvais zu haben. Dabei hatte die Stadtverwaltung wie in
fast allen Städten Frankreichs durchaus Anstrengungen unternommen, um im
Zentrum eine Fußgängerzone mit Hinweistafeln auf historische und kulturelle
Ereignisse einzurichten. Die ersten Spuren der Besiedlung konnten auf
65 000 Jahre vor unserem Zeitalter datiert werden. Das von den Römern
befestigte Lager nahm zunächst den Namen Caesaromagus an, der später in
Bellovacum umgewandelt wurde, ehe die Stadt im Jahr 275 durch den Einfall der
Barbaren zerstört wurde.
Am Schnittpunkt mehrerer
Handelsstraßen gelegen und von reichen Weizenfeldern umgeben, brachte es
Beauvais bereits im 11. Jahrhundert zu beachtlichem Wohlstand, nicht
zuletzt durch die Entwicklung des Textilhandwerks – Tuch aus Beauvais wurde bis
nach Byzanz exportiert. 1225 legte Bischof Graf Milon de Nanteuil den
Grundstein für den Bau der Kathedrale Saint-Pierre (drei Sterne im
Michelin-Reiseführer, unbedingt besichtigen ), die zwar unvollendet geblieben ist, aber immerhin
den höchsten gotischen Chor Europas besitzt. Der Niedergang von Beauvais, eng
verbunden mit dem der Textilindustrie, hatte bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts
begonnen; er hatte sich seitdem unaufhaltsam fortgesetzt, und so fand Jed ohne Schwierigkeiten
ein Zimmer im Hotel Kyriad. Bis zu Beginn des Abendessens glaubte er sogar, der
einzige Gast zu sein. Gerade als er sich über seine Kalbsblanquette – das
Tagesgericht – hermachen wollte, sah er einen einsamen
Weitere Kostenlose Bücher