Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
habe ich ihm versprochen.«
»Und das Vorwort, wann kommt das?«
»Vor Ende des Monats.«
»Steht ihr denn eigentlich in
Kontakt?«
»Nicht wirklich. Er hat mir nur im
August eine Mail geschickt, um mir zu sagen, dass er wieder nach Frankreich
zieht und dass es ihm gelungen ist, das Haus im Loiret, in dem er seine
Kindheit verbracht hat, zu kaufen. Aber er hat hinzugefügt, dass das nichts
ändert und ich das Vorwort Ende Oktober erhalte. Und ich vertraue ihm.«
VII
T ATSÄCHLICH ERHIELT J ED am Morgen des 31. Oktober eine E-Mail mit einem
unbetitelten Text von gut fünfzig Seiten im Anhang, den er gleich an Marilyn
und Franz weitersandte, begleitet von der bangen Frage: Ist das nicht zu lang?
Marilyn beruhigte ihn sofort: Im Gegenteil, sagte sie zu ihm, es sei immer von
Vorteil, ein »voluminöses« Vorwort zu haben.
Auch wenn dieser Text von Houellebecq
heutzutage als eine historische Kuriosität angesehen wird – der erste Text von
solcher Länge, der Martins Werk gewidmet war –, enthält er dennoch gewisse
interessante Intuitionen. Über die Variationen von Themen und Techniken hinaus
stellt er zum ersten Mal die Einheit der Arbeit des Künstlers in den
Vordergrund und entdeckt eine bestechende Logik in der Tatsache, dass Martin
sich, nachdem er die Jahre seiner Ausbildung damit verbracht hat, der Essenz
der Industrieprodukte dieser Welt auf die Spur zu kommen, im zweiten Teil
seines Lebens für ihre Hersteller interessiert.
Der Blick, mit dem Jed Martin die
Gesellschaft seiner Zeit betrachtet, ist, wie Houellebecq unterstreicht, viel
stärker der eines Ethnologen als der eines politischen Kommentators. Martin,
sagt er mit Nachdruck, hat nichts von einem engagierten Künstler, und auch wenn
sein Bild Die Beate Uhse AG geht an die Börse – eine der seltenen Massenszenen, die er gemalt hat –
an die Zeit des Expressionismus erinnern mag, sind wir hier weit entfernt von
der bissigen, scharfen Gestaltung, wie man sie etwa bei George Grosz oder Otto
Dix findet. Seine Trader in Jogginghose und Kapuzensweatshirt, die der
Großindustriellen der deutschen Pornobranche mit blasierter Mattigkeit Beifall
spenden, sind direkte Nachfahren der Spießbürger im Jackett, die sich in Fritz
Langs Dr. Mabuse -Filmen auf endlosen Empfängen begegnen, sie werden mit der gleichen
Interesselosigkeit, der gleichen objektiven Kühle dargestellt. Sowohl in seinen
Titeln als auch in der Malerei selbst ist Martin immer einfach und direkt: Er
beschreibt die Welt und erlaubt sich nur selten eine poetische Anmerkung, indem
er einen Untertitel zum Kommentar macht. Doch er tut es in einem seiner
gelungensten Werke, Bill Gates und Steve Jobs
unterhalten sich über die Zukunft der Informatik , für das er den Untertitel Das Gespräch in Palo
Alto gewählt hat.
In einem Korbsessel sitzend,
breitet Bill Gates die Arme weit aus und lächelt seinem Gesprächspartner zu. Er
trägt eine Leinenhose, ein kurzärmliges khakifarbenes Hemd und an den nackten
Füßen Flipflops. Es ist nicht mehr der Bill Gates in marineblauem Anzug aus der
Zeit, da Microsoft seine Weltherrschaft festigte und er persönlich den Sultan
von Brunei entthronte und in der Rangliste der reichsten Menschen der Welt den
ersten Platz einnahm. Und es ist noch nicht der betroffene, leiderfüllte Bill
Gates, der Waisenhäuser in Sri Lanka besucht oder die Weltöffentlichkeit
angesichts der zunehmenden Verbreitung von Pocken in den westafrikanischen
Ländern zur Wachsamkeit aufruft. Es ist ein Bill Gates in einer mittleren Phase,
der entspannt und sichtbar glücklich darüber ist, dass er seinen Posten als chairman der größten
Softwarefirma der Welt abgegeben hat, kurz gesagt ein Bill Gates im Urlaub. Nur
seine Brille mit der Metallfassung und den stark vergrößernden Gläsern erinnert
noch an seine Vergangenheit als Nerd.
Obwohl Steve Jobs im Schneidersitz auf
einem weißen Ledersofa hockt, wirkt er im Vergleich zu ihm paradoxerweise wie
eine Verkörperung der Strenge und der traditionellerweise mit dem
protestantischen Kapitalismus verbundenen Sorge . Es liegt nichts Kalifornisches in der Art, wie seine
rechte Hand die Kinnlade umschließt, als wolle er ihr damit beim Nachdenken helfen,
oder in dem Blick voller Ungewissheit, den er auf seinen Gesprächspartner
richtet, und selbst das Hawaiihemd, mit dem Martin ihn ausstaffiert hat, vermag
den Eindruck allgemeiner Trauer nicht zu beseitigen, der durch seine leicht gebeugte
Haltung und den Ausdruck der Bestürzung, den
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