Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
wackelndem Kopf
vor ihm saß und eine Scheibe Leberpastete nach der anderen verschlang,
sichtlich gleichgültig allem gegenüber, was einer Liebesbeziehung und
vermutlich sogar irgendeiner menschlichen Beziehung ähnelte.
»Ja, es stimmt, ich empfinde nur
wenig Solidarität mit der menschlichen Gattung«, sagte Houellebecq, als habe er
seine Gedanken erraten. »Ich muss sogar sagen, dass mein Zugehörigkeitsgefühl
zu den Menschen mit jedem Tag ein wenig abnimmt. Dabei mag ich Ihre letzten
Bilder gern, obwohl sie menschliche Wesen darstellen. Sie drücken etwas …
Allgemeines aus, so möchte ich das mal nennen, das über das Anekdotische
hinausgeht. Na ja, ich will lieber nichts aus meinem Vorwort vorwegnehmen,
sonst schreibe ich nichts mehr. Übrigens stört es Sie doch nicht allzu sehr,
wenn ich Ende März noch nicht damit fertig bin? Ich bin im Augenblick wirklich
nicht in Form.«
»Kein Problem. Dann verschieben wir
die Ausstellung. Wir warten so lange, wie es nötig ist. Wissen Sie, Sie sind
für mich sehr wichtig geworden, und noch dazu in sehr kurzer Zeit, kein Mensch
hat mich je so stark beeindruckt!«, rief Jed äußerst lebhaft aus.
»Wissen Sie, eine Sache ist
erstaunlich«, fuhr er ruhiger fort. »Von einem Porträtmaler erwartet man
eigentlich, dass er die Einzigartigkeit seines Modells hervorhebt, also das,
was es zu einem unverwechselbaren Menschen macht. In gewissem Sinne tue ich das
auch, aber andererseits habe ich den Eindruck, die Menschen gleichen sich viel
mehr, als man das gemeinhin glaubt; vor allem wenn ich die Wangen und den
Unterkiefer male, habe ich den Eindruck, die Motive eines Puzzles zu
wiederholen. Ich weiß genau, dass der Mensch das Thema des Romans, der great occidental novel ist
und auch eines der großen Themen der Malerei, aber ich kann den Gedanken nicht
zurückweisen, dass sich die Leute gar nicht so sehr voneinander unterscheiden,
wie sie es im Allgemeinen annehmen. Dass es in der Gesellschaft zu viele
Komplikationen, zu viele Unterschiede, zu viele Kategorien gibt …«
»Ja, es sind geradezu byzantinische Verhältnisse «,
pflichtete ihm der Autor von Plattform gutwillig bei. »Aber ich habe nicht den Eindruck, dass
Sie wirklich ein Porträtmaler sind. Picassos Porträt von Dora Maar zum
Beispiel, was hat man damit schon am Hut? Picassos Bilder sind sowieso
hässlich, er hat eine abscheulich verzerrte Welt gemalt, weil seine Seele abscheulich
war, das ist alles, was man über Picasso sagen kann, es gibt keinen Grund, die
Ausstellung seiner Gemälde weiterhin zu fördern, er hat nichts beizutragen, in
der Anordnung von Farben und Formen gibt es bei ihm keinerlei Licht, keinerlei
Innovation, also bei Picasso gibt es absolut nichts Erwähnenswertes, nur
extreme Dummheit und onanistische Kleckserei, die höchstens gewisse Leute um
die sechzig mit hohem Bankkonto reizen kann. Van Dycks Porträt von Blödian, das
sich im Besitz der Kaufmannsgilde befindet, ist da schon etwas anderes, weil
sich Van Dyck nicht für Blödian interessiert, sondern für die Kaufmannsgilde.
So verstehe ich zumindest Ihre Bilder, aber vielleicht irre ich mich da ja
völlig; überhaupt können Sie meinen Text einfach in den Papierkorb werfen, wenn
er Ihnen nicht gefällt. Entschuldigen Sie, ich werde aggressiv, das kommt von
den Pilzerkrankungen …« Jed sah fassungslos zu, wie er anfing, sich wütend die
Füße zu kratzen, bis Blutstropfen hervorperlten. »Ich habe Pilzerkrankungen,
bakterielle Hautinfektionen und ein stark ausgeprägtes atopisches Ekzem, ich
bin ein wandelnder Infektionsherd, ich verfaule bei lebendigem Leib, und allen
ist das scheißegal, niemand kann etwas für mich tun, die Medizin hat mich
schmachvoll im Stich gelassen, was bleibt mir da noch anderes übrig, als mich
zu kratzen? Ich kratze und kratze mich unablässig, mein Leben besteht
inzwischen nur noch daraus, es ist eine endlose Kratzorgie.«
Dann richtete er sich etwas
erleichtert wieder auf und fügte hinzu: »Ich bin jetzt etwas müde, ich glaube,
ich muss mich ein wenig ausruhen.«
»Selbstverständlich!«, sagte Jed und
sprang auf. »Ich bin Ihnen ohnehin schon sehr dankbar dafür, dass Sie mir so
viel Zeit gewidmet haben«, sagte er mit dem Gefühl, sich ganz wacker geschlagen
zu haben.
Houellebecq begleitete ihn zur Tür. Im
letzten Augenblick, kurz bevor Jed in der Dunkelheit verschwand, sagte er zu
ihm: »Wissen Sie, mir wird allmählich klar, was Sie im Begriff sind zu tun, und
ich kann mir die Folgen gut
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