Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
nicht
schlimm.«
»Doch, wir könnten uns an den
Splittern verletzen. Haben Sie einen Wischlappen?« Er sah sich um, doch
Houellebecq wackelte nur mit dem Kopf, ohne zu antworten. In einer Ecke
entdeckte Jed einen Handfeger und eine kleine Kehrschaufel aus Plastik.
»Ich mache eine neue Flasche auf«,
sagte der Schriftsteller. Er stand auf und durchquerte die Küche im Zickzack
zwischen den Glasscherben hindurch, die Jed aufsammelte, so gut er konnte.
»Wir haben schon einiges getrunken …
Was mich betrifft, ich habe genug Fotos gemacht.«
»Aber nein, Sie werden doch wohl jetzt
nicht gehen! Wir fangen doch gerade an, uns zu amüsieren … Lieben, lachen und
singen!«, rief er wieder, ehe er in einem Zug ein Glas chilenischen Wein
leerte. »Fukra buldu! Bistroye! Bistroye!«, fügte er voller Überzeugung hinzu.
Schon seit einiger Zeit hatte der berühmte Schriftsteller die Manie, seltsame
Worte zu benutzen, die manchmal veraltet oder völlig unpassend waren, wenn es
sich nicht gar um kindliche Neologismen im Stil von Kapitän Haddock handelte.
Die wenigen ihm verbliebenen Freunde wie auch seine Verleger verziehen ihm
diese Schwäche, so wie man einem müden, dekadenten Greis praktisch alles
verzeiht.
»Das ist schon ein starkes Stück, die
Idee, mein Porträt zu malen, wirklich ein starkes Stück …«
»Finden Sie?«, fragte Jed erstaunt. Er
hatte inzwischen die Glasscherben aufgesammelt, tat alles in einen Plastiksack
für Bauschutt (anscheinend besaß Houellebecq keine anderen), setzte sich wieder
an den Tisch und nahm sich eine Scheibe Wurst.
»Wissen Sie«, fuhr er fort, ohne sich
aus der Fassung bringen zu lassen, »ich möchte wirklich, dass mir dieses
Gemälde gelingt. In den letzten zehn Jahren habe ich versucht, Menschen aus
allen Gesellschaftsschichten darzustellen, vom Pferdemetzger bis zum
Vorstandsvorsitzenden eines multinationalen Unternehmens. Mein einziger
Misserfolg war der Versuch, einen Künstler darzustellen – genauer gesagt Jeff
Koons, ich weiß auch nicht, warum. Gut, bei einem Priester ist mir die Sache
auch nicht gelungen, ich wusste nicht recht, wie ich das Thema angehen sollte,
aber im Fall von Jeff Koons war es schlimmer, ich hatte das Bild schon begonnen
und war gezwungen, es zu vernichten. Ich möchte es nicht bei diesem Misserfolg
belassen – und ich glaube, mit Ihnen wird es mir gelingen. Es gibt da
irgendetwas in Ihrem Blick, ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber ich
glaube, das kann ich vermitteln …«
Plötzlich ging Jed das Wort Leidenschaft durch den Kopf, und
mit einem Schlag versetzte es ihn zehn Jahre zurück, zu dem letzten Wochenende,
das er mit Olga verbracht hatte. Es war Pfingstsonntag, sie saßen auf der
Terrasse im Château Vault-de-Lugny. Von der Terrasse hatten sie einen weiten
Blick auf den riesigen Park, dessen Bäume sich in der leichten Brise bewegten.
Es wurde allmählich dunkel, die Temperatur war herrlich mild. Olga schien in
die Betrachtung ihrer Hummerconsommé vertieft zu sein, sie hatte seit
mindestens einer Minute nichts gesagt, bis sie schließlich den Kopf hob, ihm
fest in die Augen blickte und ihn fragte: »Weißt du eigentlich, warum du den
Frauen gefällst?«
Er murmelte eine unverständliche
Antwort.
»Denn dass du den Frauen gefällst«, sagte
Olga nachdrücklich, »das weißt du doch, wie ich mal annehme. Du bist ein recht
hübscher Kerl, aber daran liegt es nicht, Schönheit ist fast nebensächlich.
Nein, der Grund ist ein anderer.«
»Sag es mir.«
»Es ist ganz einfach: Weil du einen
sehr intensiven Blick hast. Einen leidenschaftlichen Blick. Und das suchen
Frauen mehr als alles andere. Wenn sie im Blick eines Mannes Energie und
Leidenschaft entdecken, dann finden sie ihn verführerisch.«
Sie ließ ihn über diese
Schlussfolgerung nachdenken, trank einen Schluck Meursault und kostete ihre
Vorspeise. »Allerdings«, fuhr sie kurz darauf etwas traurig fort, »merken sie
es meistens nicht, wenn sich diese Leidenschaft nicht auf sie bezieht, sondern
auf ein künstlerisches Werk … Jedenfalls nicht gleich.«
Als Jed zehn Jahre später Houellebecq
gegenübersaß, wurde ihm klar, dass auch dessen Blick etwas Leidenschaftliches,
ja geradezu Entrücktes hatte. Bestimmt hatte er in einigen Frauen eine
glühende, vielleicht sogar eine äußerst stürmische Liebe geweckt. Ja, nach all
dem, was er über Frauen wusste, schien es wahrscheinlich, dass sich manche von
ihnen in dieses gequälte Wrack verliebt hatten, das jetzt mit
Weitere Kostenlose Bücher