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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Vorstellung, dass
auch sein Vater die École des Beaux-Arts besucht hatte und dass Architektur zu
den künstlerischen Fächern gerechnet wurde, war erstaunlich und ihm ein wenig
unangenehm.
    »Ja, auch ich wollte Künstler werden«, sagte sein
Vater bitter, fast boshaft. »Aber ich habe es nicht geschafft. Als ich jung
war, war der Funktionalismus die Hauptströmung, eigentlich war er sogar schon
seit mehreren Jahrzehnten tonangebend, in der Architektur hatte sich seit Le
Corbusier und Mies van der Rohe nichts geändert. Alle neuen Städte und alle in
den fünfziger und sechziger Jahren errichteten Großsiedlungen in den Vorstädten
sind von ihnen beeinflusst. Ein paar andere Studenten der Beaux-Arts und ich
hatten den Ehrgeiz, etwas anderes zu entwickeln. Wir haben das Primat der
Funktion und auch den Begriff der ›Wohnmaschine‹ nicht direkt abgelehnt, wir
haben nur die Frage gestellt, was die Tatsache, an einem bestimmten Ort zu
wohnen, im Einzelnen bedeutet. Genau wie die Marxisten und die Anhänger des
Liberalismus war Le Corbusier sehr stark produktionsorientiert. Er wollte für
die Menschen rein zweckmäßige, viereckige Bürohäuser ohne jegliche Verschönerungen
und ziemlich identische Wohnblocks, denen nur ein paar weitere funktionale
Elemente hinzugefügt wurden – Kinderkrippe, Turnhalle, Schwimmbad –, und
zwischen den beiden eine Schnellstraße. In seiner Wohnzelle müsse der Mensch
über reine Luft und möglichst viel Licht verfügen, das war in seinen Augen sehr
wichtig; und zwischen der Arbeitseinheit und der Wohneinheit müsse ein Freiraum
der wilden Natur vorbehalten werden: Wälder und Flüsse – ich nehme an, dass in
seiner Vorstellung die Familien das Recht hatten, sonntags darin spazieren zu
gehen; wie dem auch sei, er wollte diesen Freiraum schützen, er war in gewisser
Weise ein Grüner avant la lettre , für ihn sollte sich die Menschheit mit Wohnmodulen begnügen,
die sich in fest umrissenen Grenzen innerhalb der Natur befanden, diese aber
auf keinen Fall verändern durften. Das ist unglaublich primitiv, wenn man mal
darüber nachdenkt, ist das ein erschreckender Rückschritt im Vergleich zu jeder
beliebigen ruralen Landschaft – die aus einer subtilen, komplexen, sich stets
weiterentwickelnden Mischung aus Wiesen, Feldern, Wäldern und Dörfern besteht.
Es ist die Sichtweise eines brutalen, totalitären Geistes. Le Corbusier war in
unseren Augen genau das: ein totalitärer, brutaler Geist, der eine Vorliebe für
das Hässliche hatte; aber seine Sichtweise hat im gesamten 20. Jahrhundert den
Sieg davongetragen. Wir waren eher von Charles Fourier beeinflusst.« Er
lächelte, als er den überraschten Gesichtsausdruck seines Sohnes sah. »Man hat
vor allem Fouriers Theorien über die Sexualität im Gedächtnis behalten, und die
sind in der Tat ziemlich grotesk. Es ist schwer, Fourier ohne einen gewissen
Abstand zu lesen – angesichts dieser Geschichten von Wirbeln, weiblichen
Fakiren und Nixen der Rheinarmee muss man sich sogar wundern, dass er Schüler
gehabt hat, Leute, die ihn ernst genommen haben und tatsächlich den Plan
hatten, auf der Grundlage seiner Bücher ein neues Gesellschaftsmodell zu
entwickeln. Es ist unverständlich, wenn man versucht, in ihm einen Denker zu sehen, weil seine
Denkweise völlig unbegreiflich bleibt, aber Fourier ist im Grunde kein Denker,
sondern ein Guru , und zwar der erste seiner Art, und wie bei allen Gurus beruht sein Erfolg
nicht auf der geistigen Befürwortung seiner Theorie, sondern im Gegenteil auf
einem allgemeinen Unverständnis, verbunden mit einem unwandelbaren Optimismus,
insbesondere auf sexueller Ebene – die Menschen haben ein unglaublich hohes
Bedürfnis nach sexuellem Optimismus. Dabei ist Fouriers eigentliches Thema,
also das, das ihn in erster Linie interessiert, nicht die Sexualität, sondern
die Organisation der Produktion. Die große Frage, die er sich stellt, ist
folgende: Warum arbeitet der Mensch? Woher kommt es, dass er in der
gesellschaftlichen Ordnung einen bestimmten Platz einnimmt und bereit ist, an
diesem Platz zu bleiben und seine Aufgabe zu erfüllen? Die Anhänger des
Liberalismus antworteten darauf, der Grund sei einzig und allein in der
Verlockung des Geldes zu sehen; wir dagegen hielten diese Antwort für
unzureichend. Was die Marxisten angeht, so haben diese überhaupt keine Antwort
darauf gegeben, sie haben sich nicht einmal dafür interessiert. Das ist im
Übrigen einer der Gründe, weshalb der Marxismus

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