Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
auf neutralem Gebiet zu beginnen und wunderte sich dann, dass sein malerisches
Werk in seinen eigenen Augen zu einem neutralen
Gebiet geworden war.
»Ja, und es hat mir sehr gut gefallen.
Es ist … sehr originell. Es ist anders als alles, was ich je zuvor gesehen
habe. Aber ich habe schon immer gewusst, dass du Talent hast.«
Es folgte ein Moment des Schweigens.
»Kleiner Franzose …«, sagte Olga, die
mit ihrem ironischen Ton nur schlecht eine echte Rührung verbarg, und Jed
fühlte sich wieder unwohl, den Tränen nah. »Erfolgreicher kleiner Franzose …«
»Wir könnten uns treffen«, erwiderte
Jed schnell. Irgendjemand musste das ja als Erster sagen, und nun war er es
gewesen.
»Ich habe in dieser Woche wahnsinnig
viel zu tun.«
»So? Warum denn das?«
»Am 2. Januar beginnen wir mit der
Ausstrahlung unserer ersten Sendungen. Bis dahin müssen noch viele Dinge
geregelt werden.« Sie dachte eine Weile nach. »Am Silvesterabend veranstaltet
der Sender einen Empfang. Ich kann dich dazu einladen.« Sie verstummte wieder
ein paar Sekunden. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du kämst.«
Im Verlauf des Abends erhielt er
eine E-Mail, in der sie ihm alle Einzelheiten mitteilte. Das Fest fand bei
Jean-Pierre Pernaut zu Hause statt – er wohnte in Neuilly, am Boulevard des
Sablons. Der Abend stand unter dem nicht sehr überraschenden Motto: »Die
französische Provinz«.
Jed glaubte, alles über Jean-Pierre
Pernaut zu wissen, doch der Wikipedia-Artikel hielt mehrere Überraschungen für
ihn bereit. So erfuhr er etwa, dass sich der populäre Nachrichtensprecher durch
bedeutende Buchveröffentlichungen hervorgetan hatte. Neben Regionale Spezialitäten Frankreichs , Frankreichs Volksfeste und Die Schätze unserer
Regionen hatte er das zweibändige Werk Wunderbares Handwerk veröffentlicht. Alle erschienen bei Michel Lafon.
Jed überraschte auch der
schmeichelhafte, fast begeisterte Ton des Artikels. Soweit er sich erinnern
konnte, war Jean-Pierre Pernaut gelegentlich heftig kritisiert worden; all das
schien heute wie weggefegt. Jean-Pierre Pernauts Geniestreich bestand, wie der
Verfasser gleich zu Beginn schrieb, darin, begriffen zu haben, dass die
Fernsehzuschauer nach den im Zeichen von »Mammon und Machern« stehenden
achtziger Jahren begierig auf Umweltbewusstsein, Authentizität und echte Werte
seien. Selbst wenn es das Verdienst von Martin Bouygues sei, dass man ihm
Vertrauen geschenkt habe, trugen die 13-Uhr-Nachrichten von TF 1 ausschließlich den
Stempel seiner visionären Persönlichkeit. Ausgehend von den – brutalen,
hektischen, aberwitzigen – Tagesereignissen erfülle Jean-Pierre Pernaut jeden
Tag die messianische Aufgabe, den terrorisierten, gestressten Fernsehzuschauer
in idyllische Gegenden mit gut erhaltenen Landschaften zu führen, in denen der
Mensch noch in Harmonie mit der Natur lebe und sich dem Rhythmus der
Jahreszeiten anzupassen verstehe. Mehr als ein simpler Tagesspiegel nähmen die
13-Uhr-Nachrichten von TF 1 das Gepräge einer Sternwanderung an, die in einer Ode
ende. Der Verfasser des Artikels verheimlichte nicht – obwohl er sich, rein
persönlich, als Katholik zu erkennen gab –, dass sich Jean-Pierre Pernauts
Weltanschauung, auch wenn sie vollauf mit dem ländlichen Frankreich und
Frankreichs Image als »älteste Tochter der Kirche« harmoniere, ebenso gut mit
Pantheismus oder gar mit epikureischer Weisheit vertragen könne.
Am folgenden Tag kaufte sich Jed in
der Buchhandlung France Loisirs des Einkaufszentrums Italie 2 den ersten Band
von Wunderbares Handwerk . Die Unterteilung des Bandes war einfach und basierte
auf den zu bearbeitenden Materialien: Tonerde, Stein, Metall, Holz … Die
Lektüre – die wenig Zeit in Anspruch nahm, da das Buch fast ausschließlich aus
Fotos bestand – rief nicht unbedingt den Eindruck von Nostalgie hervor. Da Jean-Pierre
Pernaut das Aufkommen der verschiedenen beschriebenen Handwerksberufe sowie die
Momente wesentlicher Fortschritte innerhalb ihrer Praxis systematisch datierte,
schien er weniger ein Verfechter der Fortschrittsfeindlichkeit als der eines langsamen Fortschritts zu
sein. Es gab vielleicht, wie sich Jed sagte, ein paar Berührungspunkte in
Jean-Pierre Pernauts und William Morris’ Gedankengut – abgesehen natürlich von
Morris’ sozialistischer Verankerung. Auch wenn die meisten Fernsehzuschauer
Jean-Pierre Pernaut politisch eher rechts ansiedelten, hatte er in der Durchführung seiner
Nachrichtensendung immer
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