Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
geworden , oder aber man hat den
Eindruck, er habe sich nicht verändert. Ein trügerischer Eindruck – der Verfall
bahnt sich erst insgeheim einen Weg durch das Innere des Organismus, ehe er
offen zutage tritt. Seit zehn Jahren war Olga auf einer Stufe strahlender
Schönheit geblieben – auch wenn das nicht ausreichte, um sie glücklich zu machen.
Auch er hatte sich, wie er glaubte, innerhalb dieser zehn Jahre kaum verändert,
er hatte beharrlich Stein für Stein für sein Lebenswerk zusammengefügt, wie man sagt, ohne jedoch ein
glückliches Dasein zu führen oder das überhaupt zu versuchen.
Jean-Pierre Pernaut verstummte und
trank einen Schluck Beaume de Venise, Olgas Blick schweifte ein wenig zur
Seite, und plötzlich sah sie ihn, wie er reglos inmitten der Menge der Gäste
stand. Wenige Sekunden reichen manchmal aus, um den Verlauf eines Lebens zu
bestimmen oder um zumindest dessen wesentliche Ausrichtung ans Licht zu
bringen. Sie legte leicht die Hand auf den Unterarm des Nachrichtensprechers,
sagte ein paar entschuldigende Worte, war mit ein paar Sätzen bei Jed und
küsste ihn auf den Mund. Dann trat sie einen Schritt zurück und ergriff seine
Hände; ein paar Sekunden lang sagten beide kein Wort.
Mit wohlwollendem Blick sah
Jean-Pierre Pernaut in seinem Schwalbenschwanz von Arthur van Aschendonk den
beiden entgegen, als sie auf ihn zukamen. Mit einer Miene voller
Aufgeschlossenheit vermittelte er in dieser Minute den Eindruck, das Leben zu
kennen und sogar eine Schwäche für das Leben zu haben. Olga stellte die beiden
Männer einander vor.
»Ich kenne Sie!«, rief der
Fernsehsprecher, wobei sein Lächeln noch breiter wurde. »Kommen Sie beide mit!«
Mit raschen Schritten durchquerte
er vor ihnen den letzten Salon, streifte im Vorübergehen den Arm von Patrick Le
Lay – der vergeblich versucht hatte, sich am Kapital des Senders zu beteiligen –, und dann betraten sie einen breiten Gang mit hohen Wänden und gewölbter
Decke aus massivem Kalkstein. Stärker noch als an ein herrschaftliches Haus
erinnerte diese Stadtvilla an eine romanische Abtei mit Gängen und Krypten. Sie
machten vor einer dicken, mit fahlrotem Leder gepolsterten Tür Halt. »Mein Arbeitszimmer«,
sagte der Fernsehsprecher.
Er blieb ein paar Schritte hinter der
Türschwelle stehen, um ihnen Zeit zu geben, den Raum zu betrachten. Mehrere
Bücherschränke aus Mahagoni enthielten im Wesentlichen Reiseführer jeglicher
Art – der Guide du Routard stand neben dem Guide Bleu , Petit Futé neben Lonely Planet . Auf einem Präsentationstisch waren Jean-Pierre
Pernauts Bücher ausgestellt, von Wunderbares Handwerk bis zu Regionale
Spezialitäten Frankreichs . In einer
Vitrine befanden sich fünf Sept-d’Or-Trophäen, die er im Verlauf seiner
Karriere erhalten hatte, sowie Sportpokale unbestimmten Ursprungs. Tiefe
Ledersessel standen im Halbkreis um einen Ministerschreibtisch aus Mahagoni
herum. Hinter dem Schreibtisch erkannte Jed sofort eines der Fotos aus seiner
Michelin-Periode wieder, das diskret von einer Halogenleiste beleuchtet war.
Erstaunlicherweise hatte der Fernsehmoderator keine der spektakulären Aufnahmen
mit ins Auge springender malerischer Wirkung gewählt wie jene, die Jed von der
Steilküste im Var oder von der Verdonschlucht gemacht hatte. Das Foto, das die
Umgebung rings um Gournay-en-Bray wiedergab, war eher monoton gestaltet, ohne
dass durch die Beleuchtung oder die Perspektive ein besonderer Effekt erzielt
wurde; Jed erinnerte sich noch, dass er es exakt aus der Vertikalen aufgenommen
hatte. Die weißen, grünen und braunen Flecken waren gleichmäßig verteilt und
vom symmetrischen Netz der Landstraßen durchzogen. Keine Ortschaft hob sich
deutlich hervor, alle schienen in etwa die gleiche Größe zu haben; das Ganze
vermittelte den Eindruck von Ruhe und Ausgeglichenheit, es hatte fast etwas
Abstraktes. Plötzlich wurde ihm klar, dass er diese Landschaft vermutlich
direkt nach dem Abflug vom Flughafen Beauvais in geringer Höhe überflogen
hatte, als er Houellebecq in Irland besucht hatte. Angesichts der konkreten
Wirklichkeit, dieses unaufdringlichen Nebeneinanders von Wiesen, Feldern und
Dörfern hatte er das Gleiche empfunden: Ausgeglichenheit und friedliche
Harmonie.
»Ich weiß, dass Sie sich inzwischen
der Malerei zugewandt haben«, sagte Jean-Pierre Pernaut nach einer Weile, »und
dass Sie ein Bild von mir gemalt haben. Ehrlich gesagt habe ich sogar versucht,
es zu kaufen; aber François Pinault hat mehr
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