Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
äußerst große deontologische Vorsicht bewiesen. Er
hatte es sogar vermieden, mit dem Abenteuer von Chasse,
pêche, nature et traditions in Verbindung
gebracht zu werden, einer Partei, die 1989 gegründet worden war – also genau
ein Jahr nachdem er die Verantwortung für die 13-Uhr-Nachrichten von TF 1 übernommen hatte.
Gegen Ende der achtziger Jahre hatte wirklich eine Wende stattgefunden, sagte
sich Jed, eine große historische Wende, die seinerzeit unbemerkt geblieben war,
wie das meistens der Fall ist. Er erinnerte sich auch an die von Jacques Séguéla
erdachte Wahlparole »Die ruhige Kraft«, die 1988 allen Erwartungen zum Trotz
François Mitterrands Wiederwahl ermöglicht hatte. Er sah wieder die Plakate vor
sich, welche die alte Mumie, den ehemaligen Anhänger Pétains vor dem
Hintergrund von Kirchtürmen oder Dörfern abbildeten. Damals war er dreizehn
gewesen – es war das erste Mal, dass er einer Wahlparole und einer
Präsidentschaftswahl Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Auch wenn Jean-Pierre Pernaut die
bedeutsamste und dauerhafteste Figur dieser großen ideologischen Wende gewesen
war, hatte er sich immer geweigert, seine außergewöhnliche Bekanntheit zu
nutzen, um sich einer politischen Karriere oder einem politischen Engagement zu
widmen; er wollte bis zum Schluss im Lager der Entertainer bleiben. Im
Gegensatz zu Noël Mamère hatte er sich nicht einmal einen Schnurrbart wachsen
lassen. Und obwohl er mit Jean Saint-Josse, dem ersten Präsidenten von Chasse, pêche, nature et traditions , vermutlich sämtliche Werte teilte, hatte er sich immer geweigert, ihn
öffentlich zu unterstützen. Auch für dessen Nachfolger Frédéric Nihous hatte er
sich nicht eingesetzt.
Frédéric Nihous, 1967 in Valenciennes
geboren, hatte mit vierzehn von seinem Vater sein erstes Gewehr als Geschenk
für die bestandene mittlere Reife erhalten. Er war Inhaber eines Diploms für
europäisches und internationales Wirtschaftsrecht sowie eines weiteren für
nationale Verteidigung und europäische Sicherheit und hatte an der Universität
Cambrai Verwaltungsrecht gelehrt; außerdem war er Vorsitzender des Vereins für
Tauben- und Zugvogeljäger, Gruppe Nord. 1988 hatte er bei einem im Hérault
veranstalteten Angelwettbewerb den ersten Preis für den Fang eines 7,256 Kilo
schweren Karpfens bekommen. Zwanzig Jahre später sollte er den Fall der Partei
hervorrufen, deren Führung er übernommen hatte, weil er den Fehler beging, ein
Bündnis mit Philippe de Villiers einzugehen – was ihm die Jäger aus dem
Südwesten, die traditionellerweise antiklerikal eingestellt waren und eher der
Sozialistischen oder der Radikalen Partei nahestanden, nie verzeihen sollten.
Am Nachmittag des 30. Dezember
rief Jed Houellebecq an. Der Schriftsteller war in bester Form; er habe gerade
eine Stunde lang Holz gehackt, teilte er ihm mit. Holz gehackt? Ja, in seinem
Haus im Loiret habe er jetzt einen Kamin. Er habe auch einen Hund – eine
Promenadenmischung von zwei Jahren –, den er am Weihnachtstag im
Tierschutzzentrum von Montargis abgeholt habe.
»Unternehmen Sie am Silvesterabend
etwas?«, fragte Jed.
»Nein, nichts Besonderes. Ich lese
gerade Tocqueville noch einmal. Wissen Sie, auf dem Land geht man früh
schlafen, vor allem im Winter.«
Jed überlegte einen Augenblick lang,
ihn einzuladen, doch zum Glück wurde ihm noch rechtzeitig klar, dass er
niemanden zu einem Empfang einladen konnte, den er nicht selbst veranstaltete;
aber der Schriftsteller hätte bestimmt sowieso abgelehnt.
»Ich bringe Ihnen, wie versprochen,
Ihr Porträt. In den ersten Januartagen.«
»Mein Porträt, ja … Gern, gern.« Er
machte den Eindruck, als sei ihm das schnurzegal. Sie führten noch ein paar
Minuten lang ein angenehmes Gespräch. In der Stimme des Autors der Elementarteilchen lag etwas,
was Jed noch nie bei ihm bemerkt und mit dem er vor allem nicht gerechnet
hatte. Er brauchte eine Weile, ehe er wusste, was es war, denn im Grunde war
ihm das seit vielen Jahren nicht mehr bei jemandem aufgefallen: Er wirkte glücklich.
XII
M IT H EUGABELN BEWAFFNETE Bauern aus der Vendée hielten zu beiden Seiten des
Eingangs zu dem herrschaftlichen Haus Wache, das Jean-Pierre Pernaut bewohnte.
Jed zeigte einem von ihnen die ausgedruckte E-Mail mit der Einladung, ehe er in
einen großen, gepflasterten viereckigen Innenhof gelangte, der von Fackeln
beleuchtet war. Ein knappes Dutzend Gäste ging auf die beiden weit geöffneten
großen Türen zu, die zu den
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