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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Dante
Gabriel Rossetti, später und bis zum Ende Burne-Jones. Der grundlegende Gedanke
der Präraffaeliten drückt sich in der Überzeugung aus, dass die Kunst ab dem
Ende des Mittelalters im Niedergang begriffen war, dass sie schon zu Beginn der
Renaissance jegliche Spiritualität und allen authentischen Charakter verloren
hatte und zu einer rein industriellen und kommerziellen Tätigkeit verkommen war
und dass sich die sogenannten Großen Meister der Renaissance – egal ob Botticelli, Rembrandt oder
Leonardo da Vinci – in Wirklichkeit ganz einfach wie Leiter von
Handelsunternehmen verhalten hätten. Genau wie heutzutage Jeff Koons oder
Damien Hirst leiteten die sogenannten Großen Meister der Renaissance mit eiserner Hand Werkstätten mit
fünfzig oder gar hundert Assistenten, die den Präraffaeliten zufolge wie am
Fließband Gemälde, Skulpturen oder Fresken produzierten. Sie selbst begnügten
sich damit, eine allgemeine Richtung vorzugeben und das vollendete Werk zu
signieren, und vor allem pflegten sie den Kontakt zu den Mäzenen der damaligen
Zeit – zu Prinzen oder Päpsten. Die Präraffaeliten wie auch William Morris
waren der Ansicht, die Unterscheidung zwischen Kunst und Kunsthandwerk,
zwischen Konzeption und Ausführung müsse abgeschafft werden: Jeder Mensch könne
auf seine Weise Schönheit erzeugen – sei es in der Realisierung eines Gemäldes,
eines Kleidungsstücks oder eines Möbelstücks –, und jeder Mensch habe in seinem
täglichen Leben ebenfalls ein Anrecht darauf, von schönen Dingen umgeben zu
sein. Er verknüpfte diese Überzeugung mit einem sozialistischen Aktivismus, der
ihn dazu führte, sich immer stärker in den Bewegungen zur Emanzipation des
Proletariats zu engagieren; er wollte ganz einfach dem System der industriellen
Produktion ein Ende setzen.
    Das Erstaunliche daran ist, dass
Gropius, als er das Bauhaus gründete, genau die gleiche Linie vertrat –
vielleicht trat die politische Komponente bei ihm hinter dem spirituellen
Anspruch etwas zurück –, obwohl auch er im Grunde Sozialist war. Im »Bauhaus-Manifest«
von 1919 erklärt er, der Antagonismus zwischen Kunst und Kunsthandwerk müsse
überwunden werden, und verkündet den Anspruch auf Schönheit für alle: also
genau das Programm von William Morris. Aber je mehr sich das Bauhaus der
Industrie annäherte, desto stärker wurde die funktionalistische und
produktionsorientierte Ausrichtung; Kandinsky und Klee wurden innerhalb des
Lehrkörpers immer mehr an den Rand gedrängt, und als Goering das Institut
schließen ließ, war es sowieso schon völlig in den Dienst der kapitalistischen
Produktion getreten.
    Wir selbst waren eigentlich nicht
politisch engagiert, aber das Gedankengut von William Morris half uns, uns von
dem Verbot zu befreien, mit dem Le Corbusier jede Form von Ausschmückung belegt
hatte. Ich erinnere mich noch, dass Combas der Sache zunächst ziemlich
skeptisch gegenüberstand – die präraffaelitischen Maler, das war ganz und gar
nicht seine Welt, aber er musste zugeben, dass die von William Morris
entworfenen Tapetenmotive sehr schön waren, und als er begriff, worum es wirklich
ging, war er vollauf begeistert. Nichts hätte ihm mehr gefallen, als Motive für
Wandteppiche, Tapeten oder Friese zu entwerfen, mit denen eine ganze Reihe von
Wohnhäusern geschmückt würden. Die Anhänger der Figuration Libre waren damals
immerhin ziemlich isoliert, die minimalistische Strömung blieb tonangebend, und
das Graffiti-Writing gab es damals noch nicht – zumindest sprach man noch nicht
davon. Und so haben wir Bewerbungsunterlagen für alle halbwegs interessanten
Projekte zusammengestellt, für die es ein Ausschreibungsverfahren gab, und
haben gewartet …«
    Sein Vater verstummte wieder, hing
eine Weile seinen Erinnerungen nach, sank dann in sich zusammen, schien immer
kleiner, immer schmaler zu werden, und da wurde Jed auf einmal bewusst, mit
welchem Feuer, mit welcher Begeisterung sein Vater in den letzten Minuten
erzählt hatte. Seit er ein Kind war, hatte er ihn noch nie so reden hören – und
nie wieder, dachte er sogleich, würde er ihn so reden hören, denn sein Vater
hatte zum letzten Mal die Hoffnung und das Scheitern, die seine
Lebensgeschichte ausmachten, vor seinen Augen vorüberziehen lassen. Ein
Menschenleben ist im Allgemeinen nur eine Kleinigkeit, es lässt sich in wenigen
Ereignissen zusammenfassen, und diesmal hatte Jed die Verbitterung und die
verlorenen Jahre, den Krebs und den Stress und

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