Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
auch den Selbstmord seiner
Mutter wirklich begriffen.
»Die Funktionalisten hatten in allen
Jurys eine dominierende Position«, fasste sein Vater die Sache behutsam
zusammen. »Ich bin gegen eine Wand gerannt, wir alle sind gegen eine Wand
gerannt. Combas und Di Rosa haben nicht sogleich aufgegeben, sie haben mich
noch jahrelang angerufen, um zu hören, ob sich irgendwo eine Perspektive
ergeben würde … Und als sie merkten, dass nichts kam, haben sie sich auf ihre
Arbeit als Maler konzentriert. Und ich habe schließlich einen normalen Auftrag
annehmen müssen; der erste war in Port-Ambarès – und dann haben sich die
Aufträge gehäuft, meistens ging es um den Bau von Strandhotels in Seebädern.
Ich habe meine Pläne in Zeichenmappen auf Eis gelegt, sie befinden sich noch
immer in einem Schrank meines Arbeitszimmers in Le Raincy, du kannst sie dir ansehen
…« Er beherrschte sich, um nicht hinzuzufügen, »wenn ich tot bin«, aber Jed
hatte das durchaus verstanden.
»Es ist spät«, sagte Jeds Vater
und richtete sich auf seinem Stuhl auf. Jed warf einen Blick auf seine
Armbanduhr: Es war vier Uhr morgens. Sein Vater stand auf, ging zur Toilette
und zog dann seinen Mantel an. In den zwei oder drei Minuten, die er dafür
brauchte, hatte Jed abwechselnd den flüchtigen Eindruck, dass sie eine neue
Phase ihrer Beziehung begonnen hatten oder aber dass sie sich nie wiedersehen
würden. Als sein Vater schließlich wartend vor ihm stand, sagte er: »Ich
bestelle dir ein Taxi.«
XI
A LS J ED AM M ORGEN des 25. Dezember aufwachte, war Paris schneebedeckt. Auf
dem Boulevard Vincent-Auriol ging er an einem Bettler mit dichtem, struppigem
Bart und vor Schmutz fast brauner Haut vorbei. Er legte zwei Euro in seine
Almosenschale, doch nach ein paar Schritten machte er kehrt und fügte noch
einen Zehn-Euro-Schein hinzu; der Mann brummte erstaunt. Jed war jetzt ein
reicher Mann, und die Metallbögen der überirdischen Metro überragten eine
Landschaft von fast tödlicher Sanftheit. Im Verlauf des Tages würde der Schnee
schmelzen, all das würde sich in Matsch und schmutziges Wasser verwandeln, und
dann würde das Leben in ziemlich langsamem Rhythmus erneut beginnen. Zwischen
den beiden wesentlichen Momenten von beziehungsintensiver und hoher
kommerzieller Aktivität, Heiligabend und Sylvester, zieht sich eine endlose
Woche hin, die im Grunde nur eine lange tote Zeit ist – das Leben beginnt erst
wieder am Abend des 31. Dezember, aber dann auf ausgelassene, explosive Weise.
Als Jed wieder zu Hause war, studierte
er Olgas Visitenkarte: Michelin TV , Avenue Pierre I er de Serbie,
Programmdirektorin. Auch sie hatte beruflich viel Erfolg, ohne ihn mit
sonderlicher Verbissenheit gesucht zu haben, aber sie hatte offenbar nicht
geheiratet, und bei diesem Gedanken war ihm unbehaglich zumute. Ohne in all
diesen Jahren wirklich daran zu denken, hatte er sich immer vorgestellt, dass
sie sich erneut verliebt oder zumindest irgendwo in Russland eine Familie gegründet hatte.
Er rief am späten Vormittag des
folgenden Tages an und rechnete damit, dass alle in Ferien seien, doch das war
nicht der Fall: Nach fünf Minuten Wartezeit erwiderte ihm eine gestresste
Sekretärin, dass Olga in einer Besprechung sei und dass sie ihr von seinem
Anruf berichten werde.
Er wartete mehrere Minuten reglos
neben dem Telefon und wurde dabei immer nervöser. Das Gemälde von Houellebecq
lag auf der Staffelei ihm direkt gegenüber, er hatte es an diesem Vormittag von
der Bank abgeholt. Der durchdringende Blick des Schriftstellers erhöhte noch
sein Unwohlsein. Er stand auf und drehte das Bild um, sodass nur noch der
Keilrahmen zu sehen war. Siebenhundertfünfzigtausend Euro, sagte er sich, das
war völlig absurd. Aber auch die Preise für einen Picasso waren absurd,
vermutlich sogar noch absurder, wenn sich überhaupt eine Abstufung innerhalb
des Absurden festlegen ließ.
In dem Augenblick, als er in die Küche
ging, klingelte das Telefon. Er eilte zurück, um abzunehmen. Olgas Stimme hatte
sich nicht verändert. Die Stimmen der Leute verändern sich nie, ebenso wenig
wie der Ausdruck ihres Blickes. Inmitten des allgemeinen körperlichen Verfalls,
mit dem sich das Altern zusammenfassen lässt, legen Stimme und Blick ein
schmerzhaftes, unwiderlegbares Zeugnis vom Fortbestehen des Charakters, der
Bestrebungen, der Wünsche und all dessen ab, was die Persönlichkeit eines
Menschen ausmacht.
»Bist du in der Galerie gewesen?«,
fragte er, um das Gespräch
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