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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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für René Guénon nur Verachtung übrig.
»Guénon, dieser Dummkopf«, so sprach er von ihm, ich glaube, er hatte mehrere
scharfe Kritiken über dessen Bücher geschrieben. Er hat nie geheiratet, hat nur für seine Forschung gelebt , wie man so schön sagt. Ich habe einen langen Artikel gelesen, den er in
einer Zeitschrift für Geisteswissenschaften veröffentlicht hatte, er stellte
darin seltsame Betrachtungen über das Schicksal an und über die Möglichkeit,
eine neue Religion zu entwickeln, die auf dem Prinzip des Synchronismus
basierte. Ich glaube, allein seine Bibliothek war den Preis wert, den ich für
das Haus gezahlt habe – über fünftausend Bände auf Französisch, Englisch und
Deutsch. Darin habe ich die Werke von William Morris kennengelernt.«
    Er hielt inne, als er bemerkte, wie
sich Jeds Gesichtsausdruck veränderte.
    »Kennst du William Morris?«
    »Nein, Papa. Aber ich habe in diesem
Haus gelebt, auch ich erinnere mich an die Bibliothek.« Er seufzte, zögerte.
»Ich verstehe nicht, weshalb du so lange gewartet hast, ehe du mir davon
erzählst«, sagte er.
    »Ich nehme an, weil ich bald sterbe«,
sagte sein Vater ganz einfach. »Also nicht sofort, nicht übermorgen, aber lange
wird es wohl nicht mehr dauern, das steht fest.« Er ließ den Blick durch den
Raum schweifen und lächelte beinahe fröhlich. »Kann ich noch einen Cognac
haben?« Jed schenkte ihm sofort nach. Sein Vater zündete sich eine Gitane an
und sog den Rauch genüsslich ein.
    »Und dann wurde deine Mutter
schwanger. Deine Geburt ist ziemlich schwierig verlaufen, mit Kaiserschnitt.
Der Arzt hat ihr angekündigt, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen
könne, außerdem hat sie ein paar hässliche Narben davon zurückbehalten. Das war
hart für sie; sie war eine hübsche Frau, weißt du … Es war durchaus keine
unglückliche Ehe, es ist nie zu einem ernsten Streit zwischen uns gekommen,
aber ich habe wohl nicht genug mit ihr geredet, das stimmt. Und dann die Geige,
ich glaube, sie hätte nie damit aufhören sollen. Ich erinnere mich noch an
einen Abend, als ich in meinem Mercedes von der Arbeit zurückkam und die Porte
de Bagnolet erreicht hatte, es war schon neun Uhr, aber ich steckte noch immer
im Stau, und ich weiß gar nicht, was die Sache ausgelöst hat, vielleicht die
Doppeltürme von Les Mercuriales, weil ich gerade an einem sehr ähnlichen
Projekt arbeitete, das ich uninteressant und hässlich fand, auf jeden Fall sah
ich mich auf einmal in meinem Auto inmitten von Zufahrtsrampen für Schnellstraßen
sitzen, direkt vor diesen grässlichen Türmen, und plötzlich habe ich mir
gesagt, so kann es nicht weitergehen. Ich war fast vierzig und hatte in meinem
Beruf Erfolg, aber so konnte es nicht weitergehen. Innerhalb weniger Minuten
beschloss ich, ein eigenes Unternehmen zu gründen, um zu versuchen, meine
eigene Vorstellung von Architektur zu verwirklichen. Ich wusste, dass das
schwierig sein würde, aber ich wollte nicht die Feder aus der Hand legen, ohne
es wenigstens versucht zu haben. Ich habe meine ehemaligen Studienkollegen von
der École des Beaux-Arts angerufen, aber sie waren alle fest etabliert – auch
sie waren beruflich erfolgreich und hatten keine große Lust mehr, ein Risiko
einzugehen. Und so habe ich mich allein in das Abenteuer gestürzt. Ich habe
Kontakt zu Bernard Lamarche-Vadel aufgenommen, wir hatten uns ein paar Jahre
zuvor kennengelernt und uns auf Anhieb ziemlich gut verstanden, er hat mir die
Leute aus der Bewegung Figuration Libre vorgestellt: Combas, Di Rosa … Ich weiß
gar nicht, habe ich dir schon von William Morris erzählt?«
    »Ja, Papa, du hast vor fünf Minuten
von ihm gesprochen.«
    »So?« Er hielt inne, ein verstörter
Ausdruck ging über sein Gesicht. »Ich probiere mal eine Dunhill …« Er nahm ein
paar Züge. »Die sind auch nicht schlecht, anders als die Gitanes, aber gut. Ich
begreife nicht, weshalb alle Leute mit einem Mal das Rauchen aufgegeben haben.«
    Er verstummte und genoss seine
Zigarette bis zum letzten Zug. Jed wartete. In der Ferne versuchte eine einsame
Hupe die Melodie von »Stille Nacht, heilige Nacht« anzustimmen, verfehlte ein
paar Töne und versuchte es noch einmal, dann wurde es wieder still, es gab kein
Hupkonzert. Die Schneedecke auf den Pariser Dächern war inzwischen ziemlich
dick und fest; es lag etwas Endgültiges in dieser Stille, sagte sich Jed.
    »William Morris stand den
Präraffaeliten nahe«, sagte sein Vater nach einer Weile, »zunächst

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