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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Empfangsräumen führten. In seiner Cordhose und dem
Sympatex-Anorak von C   &   A fühlte sich Jed furchtbar underdressed : Die Frauen trugen lange Kleider, die meisten Männer
einen Smoking. Er erkannte Julien Lepers, der sich zwei Meter vor ihm befand
und von einer hinreißenden Schwarzen begleitet wurde, die einen Kopf größer war
als er. Sie trug ein langes, schillernd weißes Kleid mit goldenem
Ärmelaufschlag, das im Rücken bis zum Poansatz ausgeschnitten war, das Licht
der Fackeln spiegelte sich flackernd auf ihrem nackten Rücken wider. Der
Fernsehmoderator hatte seinen üblichen Smoking angelegt, den er auch bei seinen
Sendungen der Reihe Zu Gast in einer Universität trug, also gewissermaßen seinen Arbeitssmoking; er war
in ein offenbar schwieriges Gespräch mit einem kleinen, bösartig wirkenden Mann
verwickelt, der dem Anschein nach leicht aufbrauste und vermutlich irgendeinen
institutionellen Posten innehatte. Jed ging an ihnen vorbei, und kaum hatte er
den ersten Empfangsraum betreten, schlugen ihm die aufdringlichen Klagelaute
von etwa zehn bretonischen Dudelsackpfeifern entgegen, die eine endlose,
gequälte keltische Melodie angestimmt hatten; sie tat ihm fast in den Ohren
weh. Er ging in großem Bogen um die Musiker herum, betrat den zweiten Salon und
nahm eine mit Emmentaler aromatisierte Knackwurst und ein Glas Gewürztraminer Spätlese
an, die ihm zwei mit Tabletts von Gast zu Gast gehende elsässische
Serviererinnen in rot-weißen, um die Hüften geknoteten Schürzen und
Trachtenhauben anboten – sie glichen sich derart, dass man sie für Schwestern
halten konnte.
    Der Empfangsbereich bestand aus einer
Flucht von vier großen Salons mit einer mindestens acht Meter hohen Decke. Jed
hatte noch nie eine so große Wohnung gesehen, er hatte nicht einmal gewusst,
dass es so große Wohnungen gab. Aber vermutlich war das im Vergleich zu den
Villen der Leute, die heutzutage seine Bilder kauften, noch gar nichts, schoss
es ihm blitzschnell durch den Kopf. Es befanden sich wohl zwei- bis dreihundert
Gäste dort, der Gesprächslärm übertönte nach und nach das Pfeifen der
Dudelsäcke, er hatte den Eindruck, dass ihm gleich schwindlig werden würde, und
hielt sich am Stand der Erzeugnisse aus der Auvergne fest, an dem man ihm einen
kleinen Spieß mit Dauerwurst und Laguiole-Käse sowie ein Glas Saint-Pourçain
anbot. Der kräftige, erdige Geschmack des Käses brachte ihn wieder einigermaßen
ins Lot, er leerte sein Glas Saint-Pourçain in einem Zug, bat um ein zweites
und bewegte sich weiter durch die Menge voran. Ihm wurde allmählich zu warm, er
hätte seinen Anorak in der Garderobe abgeben sollen, denn dieser entsprach
wirklich nicht dem dress code , wie er sich erneut vorwarf, alle Männer trugen
Abendkleidung, absolut alle, sagte er sich noch einmal verzweifelt, doch genau
in diesem Augenblick stieß er auf Pierre Belmare, der eine petrolblaue Tergalhose
mit breiten Hosenträgern in den Farben der amerikanischen Flagge trug und dazu
ein weißes, mit Fettflecken besudeltes Oberhemd mit Spitzenkrause. Jed streckte
dem französischen King des Teleshopping herzlich die Hand entgegen, die dieser
überrascht drückte, und setzte ein wenig beruhigt seinen Rundgang fort.
    Er brauchte über zwanzig Minuten, ehe
er Olga fand. Sie stand in einer halb von einem Vorhang verdeckten Türöffnung
und war in ein Gespräch mit Jean-Pierre Pernaut vertieft, das offensichtlich beruflicher
Art war. Er redete die meiste Zeit und begleitete seine Sätze mit energischen
Bewegungen der rechten Hand; sie nickte ab und zu konzentriert und aufmerksam
und formulierte nur wenige Einwände oder Bemerkungen. Jed blieb ein paar Meter
vor ihr stehen. Zwei im Nacken verknotete cremefarbene Stoffbänder mit kleinen
inkrustierten Kristallen bedeckten ihre Brüste und vereinigten sich in Höhe
ihres Bauchnabels, zusammengehalten von einer Brosche, die eine Sonne aus
silbernem Metall darstellte. Die Bänder waren an einem ebenfalls mit Kristallen
besetzten kurzen, hautengen Rock befestigt, der den Ansatz eines weißen
Strapshalters erkennen ließ. Ihre ebenfalls weißen Strümpfe waren hauchdünn.
    Das Altern, insbesondere das sichtbare
Altern, ist keinesfalls ein kontinuierlicher Prozess, das Leben lässt sich eher
als eine Folge durch steile Abgründe voneinander getrennter Stufen charakterisieren.
Wenn man jemanden trifft, den man vor Jahren aus den Augen verloren hatte, hat
man manchmal den Eindruck, er sei mit einem Schlag
alt

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