Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Public-Relations-Chef von Michelin France,
wiedererkannte, auf die kleine Gruppe zuging. »Yo!«, rief dieser den drei
Führungskräften zu, ehe er ihnen mit einem klatschenden Geräusch auf die
Handfläche schlug. »Yo«, erwiderten die drei nacheinander, und in diesem
Augenblick gerieten die Dinge ins Rutschen, der Gesprächslärm nahm ganz
plötzlich zu, während ein baskisches und ein savoyisches Orchester gleichzeitig
zu spielen begannen; Jed war schweißüberströmt, er bemühte sich ein paar
Minuten lang, Olga zu folgen, die von einem Gast zum anderen ging, um jedem mit
warmherzigem Lächeln ein glückliches neues Jahr zu wünschen. Aus dem
freundlichen, aber ernsten Gesichtsausdruck, mit dem sich die Leute Olga
zuwandten, schloss Jed, dass es sich dabei um ihre Mitarbeiter handelte.
Jed spürte, wie ihm übel wurde, er
rannte nach draußen in den Innenhof und übergab sich über einer Zwergpalme. Die
Nacht war erstaunlich mild. Ein paar Gäste verließen bereits den Empfang, unter
ihnen die drei Vorstandsmitglieder von Michelin. Woher kamen sie? Waren sie im
selben Hotel untergebracht? Sie gingen mit lockeren Schritten in einer
Dreiecksformation, liefen wortlos an den Bauern aus der Vendée vorbei, im
klaren Bewusstsein, dass sie die Macht und die Wirklichkeit der Welt
verkörperten. Sie hätten ein gutes Thema für ein Gemälde abgegeben, sagte sich
Jed, als die drei diskret den Empfang verließen, während hinter ihnen die Stars
des französischen Fernsehens lachten, Schreie ausstießen und unter der Leitung
von Julien Lepers einen Wettbewerb anstößiger Lieder veranstalteten. Geheimnisumwittert
in seinem nachtblauen Frack, ließ Jean-Pierre Pernaut einen unerschütterlichen
Blick auf alldem ruhen, während Patrick Le Lay, betrunken und besiegt, über die
Pflastersteine stolperte und den Vorstandsmitgliedern von Michelin etwas
nachrief, doch diese wandten sich nicht um, würdigten ihn keines Blickes. »Eine
tiefgreifende Veränderung in der Geschichte des westeuropäischen Fernsehens«,
so hätte der Titel des Bildes lauten können, das Jed nicht malen würde, er
übergab sich erneut, er hatte noch einen Rest Gallenflüssigkeit im Magen,
vermutlich war es ein Fehler gewesen, kreolischen Rumcocktail und Absinth
durcheinander zu trinken.
Patrick Le Lay, der mit blutiger Stirn
vor ihm über die Pflastersteine kroch, hatte inzwischen alle Hoffnung
aufgegeben, die Vorstandsmitglieder einzuholen, die in die Avenue Charles-de-Gaulle
einbogen. Die Musik war ruhiger geworden, aus den Empfangsräumen drang das
langsame Pulsieren eines savoyischen Grooves an sein Ohr. Jed blickte zum
Himmel auf, zu den teilnahmslosen Sternbildern. Neuartige geistige
Konfigurationen waren im Entstehen, irgendetwas tat sich auf jeden Fall
innerhalb der französischen Fernsehlandschaft, das hatte Jed den Gesprächen der
Gäste entnommen, die, nachdem sie ihre Mäntel abgeholt hatten, mit langsamen
Schritten auf die Toreinfahrt zugingen. Er hörte im Vorübergehen die Worte
»frisches Blut« und »mal sehen, wie sie sich bewährt«, und begriff, dass sich
viele Gespräche um Olga drehten, die ein Newcomer in der französischen
Fernsehszene war; sie »komme aus dem institutionellen Bereich« war einer der
häufigsten Kommentare neben jenen, die auf ihre Schönheit anspielten. Die
Außentemperatur war schwer einzuschätzen, Jeds Körper durchliefen abwechselnd
kalte und heiße Schauer. Er wurde erneut von Krämpfen geschüttelt und übergab
sich mit Mühe über der Palme. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Olga, die
einen Schneeleoparden-Pelzmantel trug und ihn mit leichter Besorgnis
betrachtete.
»Lass uns nach Hause fahren.«
»Nach Hause … zu dir?«
Ohne etwas darauf zu erwidern, nahm
sie ihn am Arm und führte ihn zu ihrem Auto. »Kleiner empfindlicher Franzose
…«, sagte sie lächelnd, ehe sie anfuhr.
XIII
D ER ERSTE S CHIMMER DES Tageslichts drang durch den Spalt der schweren, mit
Molton gefütterten Vorhänge, die scharlachrote und gelbe Motive trugen. Olga
lag neben ihm und atmete regelmäßig, ihr kurzes Nachthemd war ihr bis zur Hüfte
hinaufgerutscht. Jed streichelte sanft ihren weißen, runden Po, ohne sie zu
wecken. Ihr Körper hatte sich in zehn Jahren kaum verändert, nur ihre Brüste
waren etwas schwerer geworden. Diese herrliche Blume aus Fleisch hatte begonnen
zu welken, und der Verfall würde sich von jetzt an beschleunigen. Sie war zwei
Jahre älter als er, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er im
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