Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
Makronen und eine Flasche
Pflaumenbranntwein standen. »Wissen Sie«, sagt er, »dass Comte behauptet, die
Menschheit bestehe aus mehr Toten als Lebendigen? An diesem Punkt bin ich
inzwischen auch angelangt, ich stehe vor allem mit Toten in Kontakt.« Schon
wieder wusste Jed nicht, was er darauf erwidern sollte. Eine alte Ausgabe der Erinnerungen von Tocqueville
lag auf dem niedrigen Tisch.
    »Tocqueville ist ein erstaunlicher
Fall«, fuhr der Schriftsteller fort. Über die
Demokratie in Amerika ist ein Meisterwerk,
ein Buch von unerhörter visionärer Kraft, das auf allen Gebieten völlig neue
Gedanken entwickelt, vermutlich das klügste politische Buch, das je geschrieben
wurde. Und anstatt sich nach diesem umwerfenden Werk weiter dem Schreiben zu
widmen, verwendet er seine ganze Energie darauf, sich in einem bescheidenen
Kanton im Departement La Manche zur Parlamentswahl aufstellen zu lassen. Und
anschließend bekleidet er verschiedene Posten in den Regierungen seiner Zeit
wie ein ganz normaler Politiker, obwohl er nichts von seinem Scharfsinn und
seiner Beobachtungskraft verloren hat.« Er blätterte in dem Band der Erinnerungen und streichelte
dabei den Rücken von Platon, der sich zu seinen Füßen ausgestreckt hatte.
»Hören Sie sich an, was er über Lamartine sagt! Mannomann, wie er den guten
Lamartine in die Pfanne haut!« Er las mit angenehmer Stimme und deutlicher
Aussprache:
    »Ich weiß nicht, ob ich in der von selbstsüchtigen Ambitionen erfüllten
Welt, in der ich lebte, jemals einem Menschen begegnet bin, der weniger an das Gemeinwohl
dachte als er. Ich habe viele Männer erlebt, die um ihrer eigenen Macht willen
das Land in Unruhe versetzten: Das ist ein Laster, das oft vorkommt. Aber
Lamartine war der Einzige, der, wie mir scheint, stets dazu bereit war, die
Welt umzustürzen, um seiner Lust nach Zerstreuung zu frönen.
    Tocqueville kann es kaum fassen,
so ein Individuum vor sich zu haben. Er selbst ist ein zutiefst aufrichtiger
Typ, der das tut, was ihm für sein Land am besten erscheint. Für Ehrgeiz und Begehren
hat er durchaus Verständnis, aber angesichts so eines Schauspielertemperaments
und einer solchen Mischung aus Verantwortungslosigkeit und Dilettantismus ist
er total verdutzt. Hören Sie sich an, wie es weitergeht:
    Ich habe auch keinen
gekannt, der weniger aufrichtig war und die Wahrheit mehr missachtete. Wenn ich
sage, dass er die Wahrheit missachtete, ist dies nicht einmal richtig; er
achtete so wenig auf sie, dass er sich überhaupt nicht mit ihr beschäftigte.
Als Redner und als Schriftsteller ging er von der Wahrheit ab und hielt sich
wieder an sie, wie es ihm gerade in den Sinn kam, denn er dachte nie an etwas
anderes als an die Wirkung, die er im Augenblick gerade erzielen wollte.«
    Houellebecq vergaß darüber seinen
Gast, er las stumm weiter und blätterte die Seiten mit zunehmender Begeisterung
um.
    Jed wartete, zögerte, leerte sein Glas
Pflaumenbranntwein in einem Zug und räusperte sich dann. Houellebecq blickte zu
ihm auf. »Ich bin natürlich gekommen«, sagte Jed, »um Ihnen das Bild zu
bringen, aber auch weil ich eine Botschaft von Ihnen erwarte.«
    »Eine Botschaft?« Das Lächeln des
Schriftstellers verblasste nach und nach, eine erdige, mineralische Trauer
zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Sie haben den Eindruck«, sagte er
schließlich langsam, »dass mein Leben zu Ende geht und dass ich enttäuscht bin,
so ist es doch, oder?«
    »Äh … ja, in etwa.«
    »Tja, da haben Sie recht: Mein Leben
geht zu Ende, und ich bin enttäuscht. Nichts von dem, was ich mir in meiner
Jugend gewünscht habe, ist eingetreten. Es hat interessante Momente gegeben,
aber sie waren immer schwierig und haben fast immer meine Kräfte überstiegen,
nie ist mir etwas als Geschenk vorgekommen, und jetzt habe ich es einfach satt,
ich möchte nur noch, dass alles ohne übermäßiges Leiden, ohne schwere
Krankheit, ohne Gebrechen zu Ende geht.«
    »Sie reden wie mein Vater …«, sagte
Jed leise. Houellebecq zuckte bei dem Wort Vater zusammen, als habe Jed etwas Obszönes gesagt, dann
ging ein zwar höfliches, aber kühles, blasiertes Lächeln über sein Gesicht. Jed
verschlang Schlag auf Schlag drei Makronen und goss dann ein großes Glas
Pflaumenbranntwein hinunter, ehe er fortfuhr.
    »Mein Vater«, wiederholte er
schließlich, »hat mir von William Morris erzählt. Ich wollte wissen, ob Sie ihn
kennen und was Sie von ihm halten.«
    »William Morris …« Sein Ton war wieder
locker und

Weitere Kostenlose Bücher