Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
zugleich als Holzreserve und Keller
diente. Auf der rechten Seite befanden sich zwei Schlafzimmer. Das erste war
mit einem hohen, schmalen Ehebett eingerichtet, das mitten in dem unbenutzten,
eiskalten Raum stand. In dem zweiten befanden sich eine Schlafnische mit einem
Kinderbett und ein Sekretär mit einer ausklappbaren Schreibplatte. Jed
entzifferte die Titel der Bücher, die auf einem Regal über dem Kopfende des Bettes
standen: Werke von Chateaubriand, Vigny, Balzac.
»Ja, da schlafe ich«, bestätigte
Houellebecq, als sie ins Wohnzimmer zurückgingen und sich wieder vors Feuer
setzten, »in meinem früheren Kinderbett … Man endet so, wie man angefangen
hat«, fügte er mit einem nur schwer zu deutenden Gesichtsausdruck – Befriedigung?
Resignation? Bitterkeit? – hinzu. Jed fiel kein angemessener Kommentar ein.
Nach dem dritten Glas Chablis spürte
er, wie ihn eine leichte Benommenheit überkam. »Wir können jetzt essen«, sagte
der Schriftsteller. »Ich habe gestern Pot-au-feu gekocht, heute schmeckt es
noch besser; Pot-au-feu lässt sich sehr gut aufwärmen.«
Der Hund folgte ihnen in die Küche,
rollte sich in einem großen Stoffkorb zusammen und seufzte zufrieden. Das
Pot-au-feu war gut. Eine Pendelstanduhr ließ ein leises Ticktack hören. Durch
das Fenster sah man schneebedeckte Wiesen, ein Wäldchen aus schwarzen Bäumen
versperrte den Horizont.
»Sie haben sich für ein geruhsames
Leben entschieden …«, sagte Jed.
»Es geht allmählich aufs Ende zu; man
altert in Ruhe.«
»Schreiben Sie nicht mehr?«
»Anfang Dezember habe ich versucht,
ein Gedicht über Vögel zu schreiben, etwa zu dem Zeitpunkt, als Sie mich zu
Ihrer Ausstellung eingeladen haben. Ich hatte mir ein Vogelhäuschen gekauft und
Speckstücke hineingetan. Es war schon kalt, der Winter ist in diesem Jahr sehr
früh angebrochen. Die Vögel kamen bald sehr zahlreich: Buchfinken, Dompfaffen,
Rotkehlchen … Sie haben die Speckstücke sehr geschätzt, aber ein Gedicht über
sie zu schreiben ist etwas ganz anderes … Schließlich habe ich ein Gedicht über
meinen Hund geschrieben. Das Jahr stand im Zeichen des P, ich habe meinen Hund
Platon genannt, und meine Poesie ist mir gut von der Hand gegangen; es ist
eines der besten Gedichte, die je über Platons Philosophie geschrieben wurden –
und vermutlich auch über Hunde. Das wird eines meiner letzten Werke sein,
vielleicht das letzte überhaupt.«
Im gleichen Augenblick rührte sich
Platon in seinem Korb, bewegte die Pfoten hektisch in der Luft, stieß im Traum
ein langes Knurren aus und verfiel dann wieder in ruhigen Schlaf.
»Vögel sind gar nichts«, fuhr
Houellebecq fort. »Kleine lebendige Farbtupfer, die ihre Eier ausbrüten,
Tausende von Insekten verschlingen und pathetisch von einer Stelle zur anderen
flattern, ein emsiges, blödes Leben, das ganz dem Verschlingen von Insekten und
der Reproduktion des Immergleichen gewidmet ist – und dann und wann einem
bescheidenen Festschmaus von Larven. Hunde dagegen haben immerhin ein
individuelles Schicksal und eine Vorstellung von der Welt, selbst wenn ihre Dramen
undifferenziert bleiben, weder von historischer noch von narrativer Bedeutung
sind; ich glaube, ich habe inzwischen ziemlich mit der Welt als Narration abgeschlossen – der Welt der Romane und Filme und auch der Welt der Musik. Ich
interessiere mich jetzt nur noch für die Welt als
Aneinanderreihung – in Poesie und Malerei.
Wollen Sie noch etwas Pot-au-feu?«
Jed lehnte ab. Houellebecq holte einen
Saint-Nectaire und einen Époisse aus dem Kühlschrank, schnitt ein paar Scheiben
Brot ab und öffnete eine weitere Flasche Chablis.
»Es ist nett von Ihnen, dass Sie mir
das Bild bringen«, fügte er nach ein paar Sekunden hinzu. »Ich werde es mir ab
und zu ansehen, es wird mich daran erinnern, dass ich zeitweilig ein intensives
Leben geführt habe.«
Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück,
um einen Kaffee zu trinken. Houellebecq legte zwei weitere Holzscheite ins
Feuer und machte sich dann in der Küche zu schaffen. Jed sah sich die
Bibliothek näher an und war überrascht über die geringe Anzahl von Romanen – im
Wesentlichen Klassiker. Dagegen enthielt sie eine erstaunliche Anzahl von
Werken der Sozialreformer des 19. Jahrhunderts: die bekanntesten wie Marx,
Proudhon und Comte, aber auch Fourier, Cabet, Saint-Simon, Pierre Leroux, Owen,
Carlyle sowie ein paar andere, die Jed so gut wie nichts sagten. Der Autor kam
mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kaffeekanne,
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