Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
objektiv. »Es ist erstaunlich, dass Ihr Vater über ihn gesprochen
hat, William Morris kennt heute kaum noch jemand.«
»In den Kreisen von Architekten und
Künstlern, in denen er in seiner Jugend verkehrte, offenbar doch.«
Houellebecq stand auf und suchte
mindestens fünf Minuten lang in seiner Bibliothek, ehe er ein dünnes Buch mit
abgegriffenem, vergilbtem Einband fand, der mit verschnörkelten Jugendstilmotiven
verziert war. Er setzte sich und blätterte vorsichtig die fleckigen, steif
gewordenen Seiten um – das Buch war offensichtlich seit Jahren nicht mehr
aufgeschlagen worden.
»So«, sagte er schließlich, »hier ist
eine Stelle, die in etwa seinen Standpunkt kennzeichnet. Sie stammt aus einem
Vortrag, den er 1889 in Edinburgh gehalten hat:
Unsere Lage als Künstler
lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wir sind die letzten Vertreter des
Handwerks, dem die kommerzielle Produktion den Todesstoß versetzt hat.
Gegen Ende hat er sich dem
Marxismus angeschlossen, aber anfangs war das anders, da war er wirklich
originell. Er geht vom Standpunkt des Künstlers aus, wenn dieser ein Werk schafft,
und versucht diese Sichtweise auf den gesamten Bereich der industriellen und
landwirtschaftlichen Produktion auszudehnen. Man kann sich heutzutage kaum noch
vorstellen, wie reich die politischen Überlegungen zu jener Zeit waren.
Chesterton hat William Morris in Die Rückkehr des Don
Quijote Anerkennung gezollt. Es ist ein
seltsamer Roman, in dem er eine Revolution entwirft, die die Rückkehr zum
Handwerk und zum mittelalterlichen Christentum anstrebt und sich nach und nach
auf den britischen Inseln ausbreitet. Sie verdrängt die anderen Arbeiterbewegungen
sozialistischer oder marxistischer Prägung und führt schließlich dazu, dass das
System der industriellen Produktion zugunsten von Zünften und Agrarkommunen
aufgegeben wird. Die Geschichte ist völlig unwahrscheinlich und spielt sich in
einer Art Märchenatmosphäre ab, die durchaus an die der Father Brown -Romane erinnert.
Chesterton hat, glaube ich, viele seiner eigenen Überzeugungen in diesem Buch
verarbeitet. Aber man muss auch sagen, dass William Morris nach allem, was man
über ihn weiß, ein außerordentlicher Mensch war.«
Im Kamin fiel ein Holzscheit um und
versprühte Funken. »Ich hätte mir einen Funkenschutz kaufen sollen«, knurrte
Houellebecq, ehe er das Weinbrandglas an die Lippen setzte. Jed fixierte ihn
noch immer reglos und aufmerksam, von einer außerordentlich starken,
unverständlichen Nervenanspannung erfasst. Houellebecq blickte ihn überrascht
an, und Jed stellte beschämt fest, dass seine linke Hand krampfhaft zitterte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er schließlich und entspannte sich mit einem Schlag.
»Ich mache gerade eine etwas … sonderbare Zeit durch.«
»William Morris hat kein besonders
glückliches Leben geführt, wenn man die üblichen Maßstäbe anlegt«, begann
Houellebecq wieder. »Dabei sind sich alle Zeitzeugen darin einig, dass er
fröhlich, optimistisch und aktiv war. Mit dreiundzwanzig Jahren lernte er Jane
Burden kennen, die zu jenem Zeitpunkt achtzehn war und als Modell für Maler
arbeitete. Er heiratete sie zwei Jahre später und spielte selbst mit dem
Gedanken, sich der Malerei zu widmen, ehe er darauf verzichtete, da er sich
nicht für begabt genug hielt – er schätzte die Malerei über alles. Er ließ sich
in Upton am Ufer der Themse nach eigenen Plänen ein Haus bauen, das er selbst
dekorierte, um mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern darin zu
leben. Seine Frau war allen zufolge, die ihr begegnet sind, von
außergewöhnlicher Schönheit, aber sie war ihm untreu. Insbesondere hatte sie
ein Verhältnis mit Dante Gabriel Rossetti, dem Hauptvertreter der
Präraffaeliten. William Morris bewunderte ihn als Maler sehr. Schließlich zog
Rossetti sogar zu ihnen und verdrängte ihn richtiggehend aus dem Ehebett.
Daraufhin unternahm Morris Reisen nach Island, er erlernte die Sprache und
übersetzte isländische Sagas. Nach ein paar Jahren kehrte er zurück und suchte
die Aussprache; Rossetti willigte ein auszuziehen, aber irgendetwas war
zerbrochen, und es kam nie wieder zu einer wirklich intimen Beziehung zwischen
den Eheleuten. Er hatte sich bereits in mehreren sozialen Bewegungen engagiert,
aber schließlich verließ er die Social Democratic
Federation , die ihm zu gemäßigt erschien,
um die Socialist League zu gründen, die eindeutig kommunistische Ansichten verteidigte, und bis zu
seinem
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