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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Tod hat er sich mit Haut und Haaren der kommunistischen Sache
verschrieben, zahlreiche Zeitungsartikel geschrieben, Vorträge gehalten und
Meetings veranstaltet …«
    Houellebecq verstummte, schüttelte
resigniert den Kopf und streichelte sanft den Rücken Platons, der befriedigt
knurrte.
    »Und bis zum Schluss«, sagte er
langsam, »hat er die viktorianische Prüderie angeprangert und für die freie
Liebe gekämpft.
    Wissen Sie«, fügte er noch hinzu, »ich
habe immer die widerwärtige, wenn auch sehr überzeugende These verabscheut, dass
ein vordergründig uneigennütziges, großzügiges politisches oder soziales
Engagement in den meisten Fällen nur eine Kompensation für Probleme privater
Art sei.«
    Jed blieb stumm, wartete
mindestens eine Minute. »Glauben Sie, dass er ein Utopist war?«, fragte er
schließlich. »Ein völlig unrealistischer Mensch?«
    »In gewisser Weise ganz bestimmt. Er
wollte die Schule abschaffen, weil er meinte, die Kinder würden in einer Atmosphäre
völliger Freiheit viel besser lernen; er wollte die Gefängnisse abschaffen,
weil er meinte, Reue sei eine ausreichende Strafe für einen Verbrecher. Es ist
schwer, dieses abstruse Zeug heute ohne eine Mischung aus Rührung und Überdruss
zu lesen. Aber trotzdem, trotzdem …« Houellebecq zögerte, suchte nach Worten.
»Trotzdem hat er paradoxerweise in praktischer Hinsicht gewisse Erfolge
erzielt. Um seine Vorstellungen von der Rückkehr zur handwerklichen Fertigung
in die Praxis umzusetzen, hat er schon sehr früh eine Firma für Dekoration und
Wohnungseinrichtung gegründet; seine Arbeiter brauchten sehr viel weniger
Arbeitsstunden abzuleisten als ihre Kollegen in den Fabriken der damaligen
Zeit, die allerdings die reinsten Sträflingslager waren, aber vor allem
arbeiteten sie ohne Zwang, jeder war für seine Aufgabe von A bis Z
verantwortlich, William Morris’ wesentliches Prinzip bestand darin, die
Konzeption nie von der Ausführung zu trennen, in dieser Hinsicht nahm er sich
das Mittelalter zum Vorbild. Allen Zeugnissen zufolge waren die
Arbeitsbedingungen idyllisch: helle, luftige Werkstätten am Ufer eines Flusses.
Alle Gewinne wurden unter den Arbeitern aufgeteilt, bis auf einen kleinen
Anteil, mit dem die sozialistische Propaganda finanziert wurde. Tja, und allen
Erwartungen zum Trotz hatte er sofort damit Erfolg, auch auf kommerzieller
Ebene. Nach der Tischlerei interessierte er sich für das Juwelierhandwerk, die
Lederverarbeitung und dann für Glasmalerei, Stoffverarbeitung und
Wanddekoration, und all das mit dem gleichen Erfolg: Die Firma Morris & Co
erwirtschaftete vom Anfang bis zum Ende ihrer Existenz Gewinne. Und das ist
keiner der vielen Arbeitergenossenschaften gelungen, die im Verlauf des
19. Jahrhunderts entstanden, weder Fouriers Phalansterien noch Cabets
Siedlung Ikarien, keine hat es geschafft, eine effiziente Produktion von Gütern
und Lebensmitteln zu gewährleisten; mit Ausnahme der von William Morris
gegründeten Firma lässt sich nur eine Folge von Misserfolgen aufzählen. Ganz zu
schweigen von den späteren kommunistischen Gesellschaften …«
    Er verstummte wieder. In dem Raum
wurde es allmählich dunkel. Er stand auf, knipste eine Stehlampe an und legte
ein weiteres Holzscheit ins Feuer, ehe er sich wieder setzte. Jed hatte die
Hände auf den Knien liegen und starrte ihn noch immer aufmerksam und völlig
still an.
    »Ich weiß nicht«, sagte Houellebecq.
»Ich bin zu alt, ich bin es nicht mehr gewohnt und habe auch keine Lust mehr
dazu, eine Schlussfolgerung zu ziehen, es sei denn mit ein paar einfachen
Worten. Es gibt Porträts von ihm, die Burne-Jones gezeichnet hat: Auf diesen
Bildern sieht man ihn, wie er gerade eine neue Mischung pflanzlicher
Färbemittel ausprobiert oder seinen Töchtern etwas vorliest. Ein untersetzter,
zotteliger Typ mit rötlichem Gesicht, lebhaften Augen hinter einer kleinen
Brille und einem buschigen Bart; auf allen Zeichnungen erweckt er den Eindruck
von ständiger Betriebsamkeit, unerschöpflichem gutem Willen und großer
Naivität. Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass das Gesellschaftsmodell,
das William Morris vorschlägt, in einer Welt, in der alle Menschen William
Morris gleichen würden, nichts Utopisches hätte.«
    Jed wartete noch eine ganze Weile,
während sich die Dunkelheit über die Felder ringsumher legte. »Ich danke
Ihnen«, sagte er schließlich und stand auf. »Es tut mir leid, dass ich Sie in
Ihrer Abgeschiedenheit gestört habe, aber Ihre

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