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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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haben, hatte für seinen Vater bedeutet, all seine
künstlerischen Ambitionen aufzugeben, und, allgemeiner gesprochen, sich mit dem
Tod abzufinden. Das geht vermutlich vielen Menschen so, aber seinen Vater hatte
das damals besonders hart getroffen. Jed ging durch den Flur zum Schlafzimmer
zurück. Olga schlief noch immer friedlich, fest in sich zusammengerollt. Er
verharrte fast eine Minute lang an ihrem Bett, beobachtete ihre regelmäßigen
Atemzüge und versuchte vergeblich, zu einer Synthese zu kommen, und plötzlich
musste er an Houellebecq denken. Ein Schriftsteller muss doch das Leben kennen
oder zumindest diesen Eindruck erwecken. Auf die eine oder andere Weise musste
Houellebecq in diese Synthese einbezogen werden.
    Es war inzwischen helllichter Tag,
aber die Avenue Foch war noch immer genauso menschenleer. Er hatte nie mit Olga
über seinen Vater gesprochen und auch nicht mit seinem Vater über Olga, ebenso
wenig wie er mit Houellebecq oder Franz über die beiden gesprochen hatte, er
hatte zwar einen Rest gesellschaftlichen Lebens aufrechterhalten, aber das ließ
sich keinesfalls mit einem Netz, einem organischen Gewebe oder sonst
irgendetwas Lebendigem vergleichen, es wirkte eher wie eine elementare,
minimale, nicht verästelte Grafik mit unabhängigen, verdorrten Zweigen. Als er
wieder zu Hause war, verstaute er das Porträt des Schriftstellers in einem
Titankasten, den er auf dem Dachgepäckträger seines Audi Shooting Brake
befestigte. An der Porte d’Italie fuhr er in Richtung Autobahn A10.
    Sobald er die letzten Vorstädte und
die letzten Lagerhallen hinter sich gelassen hatte, stellte er fest, dass der
Schnee nicht geschmolzen war. Die Außentemperatur betrug -3 °C, aber die
Klimaanlage funktionierte ausgezeichnet, eine gleichmäßige Wärme erfüllte die
Fahrgastzelle. Audis zeichnen sich durch eine besonders hohe
Verarbeitungsqualität aus, mit der dem Auto Journal zufolge nur manche Modelle von Lexus rivalisieren
können. Dieser Wagen war sein erster Kauf gewesen, nachdem ihm sein Reichtum
einen neuen Status verliehen hatte: Schon bei seinem ersten Besuch beim
Vertragshändler hatten ihm die gewissenhafte, millimetergenaue Montage aller
Metallelemente und das sanfte Geräusch beim Zuschlagen der Türen gefallen, all
das war gefertigt wie bei einem Safe. Er drehte am Tempomatknopf und entschied
sich für eine Reisegeschwindigkeit von 105 km/h. Bei einer Änderung von jeweils
5 km/h rastete die Vorrichtung leicht ein und erleichterte somit die Bedienung;
dieses Auto war wirklich perfekt. Eine feine, makellose Schneedecke überzog die
fast waagerechte Ebene, die Sonne schien unverzagt, fast fröhlich auf die
verschlafene Beauce-Landschaft. Kurz vor Orléans nahm er die E60 in Richtung
Courtenay. Ein paar Zentimeter unter der Erdoberfläche warteten Körner darauf
zu keimen, zu erwachen. Die Fahrt würde zu kurz sein, sagte er sich, er hätte
Stunden, ja ganze Tage auf der Autobahn bei konstanter Geschwindigkeit
gebraucht, um auch nur den geringsten klaren Gedanken fassen zu können. Er
zwang sich dennoch, an einer Raststätte Halt zu machen, und als er wieder
losfuhr, sagte er sich, dass er Houellebecq anrufen müsse, um ihn über seine
Ankunft zu informieren.
    Er fuhr in Montargis-West von der
Autobahn ab, hielt fünfzig Meter vor der Mautstelle an, wählte die Nummer des
Schriftstellers und ließ es etwa zehnmal klingeln, ehe er auflegte. Die Sonne
war verschwunden, der Himmel über der Schneelandschaft war von einem milchigen
Weiß. Die schmutzig weißen Kabinen der Mautstelle vervollständigten diese
diskrete Symphonie heller Töne. Die Kälte, die Jed entgegenschlug, als er aus
dem Auto stieg, war viel heftiger als im Stadtgebiet, und er ging ein paar
Minuten auf dem geteerten Rastplatz auf und ab. Als er den auf dem Dach seines
Autos befestigten Titankasten sah, fiel ihm plötzlich der Grund seiner Reise
wieder ein, und er sagte sich, dass er nun, da alles vorbei war, Houellebecq
würde lesen können. Nun, da was vorbei war? Noch während er sich die Frage stellte,
war ihm die Antwort schon klar, und er begriff, dass Franz die Sache richtig
eingeschätzt hatte: Michel Houellebecq,
Schriftsteller würde sein letztes Bild
sein. Vermutlich würde er noch Ideen für Bilder, Träumereien von Bildern haben,
aber nie wieder würde er die nötige Energie und Motivation aufbringen, um ihnen
Form zu verleihen. Man kann sich immer – so hatte es Houellebecq gesagt, als er
ihm von seiner

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