Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Meinung war mir sehr wichtig.
Sie haben mir sehr geholfen.«
Auf der Türschwelle schlug ihnen
bittere Kälte entgegen. Der Schnee glitzerte leicht. Die schwarzen Äste der
kahlen Bäume zeichneten sich gegen den dunkelgrauen Himmel ab. »Es gibt bestimmt
Glatteis«, sagte Houellebecq. »Fahren Sie vorsichtig.« In dem Augenblick, da er
sich umdrehte, um zum Auto zu gehen, sah Jed, wie Houellebecq zum Zeichen des
Abschieds langsam die Hand in Höhe der Schulter hin und her bewegte. Sein Hund,
der neben ihm saß, schien zu nicken, als sei er mit Jeds Abreise einverstanden.
Jed wollte den Schriftsteller gern wiedersehen, spürte aber insgeheim, dass es
aufgrund irgendwelcher widriger Umstände oder unvorhergesehener Ereignisse
nicht dazu kommen würde. Sein gesellschaftliches Leben war im Moment eindeutig
im Begriff, sich zu vereinfachen.
Über leere, kurvenreiche
Landstraßen erreichte er langsam, ohne jemals schneller als 30 km/h zu fahren,
die Autobahn A10. In dem Moment, da er in die Auffahrt einbog, bemerkte er
weiter unten ein endloses Lichterband von Scheinwerfern und begriff, dass er in
unaufhörliche Staus geraten würde. Die Außentemperatur war auf -12 °C
gefallen, aber im Inneren blieb die Temperatur bei 19 °C, die
Klimaanlage funktionierte ausgezeichnet; er empfand keinerlei Ungeduld.
Als er France-Inter einschaltete,
stieß er auf eine Sendung, in der die kulturellen Ereignisse der Woche
zerpflückt wurden. Die kommentierenden Kritiker prusteten los, ihr dummes
Geschwätz und ihr lautes Gelächter waren unglaublich ordinär. France-Musique
sendete eine italienische Oper, deren hochtrabende, gekünstelte Brillanz ihm
sehr bald auf die Nerven ging; er stellte das Autoradio ab. Er hatte Musik nie
geliebt und liebte sie anscheinend weniger denn je. Er fragte sich flüchtig,
was ihn dazu veranlasst hatte, sich auf eine künstlerische Darstellung der Welt
einzulassen oder zu glauben, dass eine künstlerische Darstellung der Welt
überhaupt möglich sei; die Welt war alles andere als ein Gegenstand
künstlerischer Emotionen, die Welt stellte sich eindeutig als ein rationaler
Bezugsrahmen ohne jede Magie und ohne besonderes Interesse dar. Er schaltete
das Radio wieder ein und suchte Autoroute FM , einen Sender, auf dem nur Verkehrsnachrichten
gebracht wurden: In der Höhe von Fontainebleau und Nemours hatte es Unfälle
gegeben, die Staus würden sich vermutlich bis Paris hinziehen.
Es war Sonntag, der 1. Januar,
sagte sich Jed, nicht nur das Wochenende, sondern auch die Ferien gingen zu
Ende, es war der Beginn eines neuen Jahres für all diese Leute, die langsam nach
Hause fuhren, vermutlich über den schleppenden Verkehr schimpfend, und in
einigen Stunden die Außengrenze der Pariser Vorstädte erreichen würden. Und
nach einer kurzen Nacht würden sie wieder ihre – untergeordnete oder hohe –
Stellung im westlichen Produktionssystem einnehmen. Auf der Höhe von Melun-Süd
war die Luft plötzlich von einem weißlichen Dunst erfüllt, sodass der Verkehr
noch schleppender wurde, mehr als fünf Kilometer fuhren sie im Schritttempo,
ehe die Autobahn auf der Höhe von Melun-Mitte wieder etwas freier wurde. Die
Außentemperatur betrug -17 °C. Das Gesetz von Angebot
und Nachfrage hatte ihm selbst vor einem
knappen Monat plötzlichen Reichtum beschert, der ihn wie ein Funkenregen
eingehüllt und vom finanziellen Joch befreit hatte, und auf einmal wurde ihm
klar, dass er diese Welt nun verlassen würde, in der er sich nie wirklich zu
Hause gefühlt hatte. Seine an sich schon nicht sehr zahlreichen menschlichen
Beziehungen würden eine nach der anderen einschlafen, abbrechen, und dann würde
sich das Leben für ihn so ähnlich gestalten wie hier in dieser perfekt
verarbeiteten Fahrgastzelle seines Audi Allroad A6: friedlich, freudlos und
endgültig neutral.
D RITTER T EIL
I
S OBALD J ASSELIN DIE T ÜR seines Renault Safrane öffnete, begriff er, dass er
einen der schlimmsten Momente seiner Laufbahn erleben würde. Kommissar Ferber
saß völlig niedergeschmettert ein paar Schritte neben der Absperrung, reglos,
den Kopf in die Hände gestützt. Es war das erste Mal, dass Jasselin einen Kollegen
in diesem Zustand sah – die Beamten der Kriminalpolizei legten sich alle mit
der Zeit eine harte Schale zu, was ihnen erlaubte, ihre emotionalen Reaktionen
unter Kontrolle zu halten, oder aber sie wechselten den Beruf, und Ferber war
schon seit über zehn Jahren bei der Kripo. Die drei Beamten der Gendarmerie
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