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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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aus
Montargis, die sich einige Meter hinter ihm befanden, waren ebenfalls wie
erstarrt: Zwei von ihnen knieten mit leerem Blick im Gras, und der dritte –
vermutlich ihr Vorgesetzter, Jasselin glaubte das Abzeichen eines Brigadiers
erkannt zu haben – trat wankend von einem Fuß auf den anderen, kurz davor, in
Ohnmacht zu fallen. Ab und zu trug eine Brise, die die Butterblumen auf der
leuchtend grünen Wiese sanft hin und her bewegte, Schwaden eines unerträglichen
Gestanks aus dem Langhaus zu ihnen herüber. Keiner der vier Beamten hatte auf
die Ankunft des Wagens reagiert.
    Jasselin ging auf Ferber zu, der wie
gebrochen im Gras sitzen blieb. Mit seiner blassen Gesichtsfarbe, den
hellblauen Augen und dem halblangen schwarzen Haar hatte Christian Ferber mit
zweiunddreißig Jahren das romantische Äußere eines schönen, düsteren, sensiblen
Mannes, was für einen Polizeibeamten eher ungewöhnlich war; dabei war er ein
kompetenter, hartnäckiger Beamter, einer von jenen, mit denen Jasselin am
liebsten zusammenarbeitete. »Christian«, sagte Jasselin erst leise und dann
immer lauter. Ferber sah langsam zu ihm auf wie ein bestrafter kleiner Junge
und warf ihm einen jämmerlichen, klagenden Blick zu.
    »Ist es so schlimm?«, fragte Jasselin
leise.
    »Noch viel schlimmer. Viel schlimmer,
als du dir vorstellen kannst. Jemanden, der das getan hat … den dürfte es gar
nicht geben. Der müsste vom Erdboden verschluckt werden.«
    »Wir kriegen ihn bestimmt, Christian.
Wir kriegen sie doch alle.«
    Ferber schüttelte den Kopf und begann
zu weinen. All das wurde allmählich sehr ungewöhnlich.
    Nach einer Weile, die Jasselin wie
eine halbe Ewigkeit vorkam, stand Ferber auf und führte seinen Kollegen mit
wackligen Knien zu der Gruppe von Gendarmen. »Mein Vorgesetzter, Hauptkommissar
Jasselin«, sagte er mit leiser Stimme. Bei diesen Worten begann einer der
beiden jungen Gendarmen sich zu übergeben, rang nach Atem und übergab sich dann
noch einmal, ohne sich um irgendjemanden zu kümmern, und auch das war für einen
Gendarmen sehr ungewöhnlich. »Brigadier Bégaudeau«, stellte sich sein
Vorgesetzter mechanisch vor und trat dabei noch immer wankend von einem Fuß auf
den anderen, ohne dass dieses Verhalten irgendeinen Sinn ergab – kurz gesagt,
in dieser Angelegenheit durfte man von der Gendarmerie aus Montargis wohl nicht
allzu viel erwarten.
    »Man wird ihnen den Fall bestimmt
entziehen«, fasste Ferber die Situation zusammen. »Wir haben die Fahndung in
Gang gesetzt, weil er eine Verabredung in Paris hatte, zu der er nicht erschienen
ist, und man uns daraufhin angerufen hat. Und da er hier seinen Wohnsitz hat,
habe ich die Gendarmen beauftragt, die Sache zu überprüfen, und sie haben ihn
gefunden.«
    »Wenn sie die Leiche gefunden haben,
können sie beantragen, dass man sie mit der Angelegenheit betraut.«
    »Ich glaube nicht, dass sie das tun
werden.«
    »Und warum bist du dir da so sicher?«
    »Ich vermute, dass du mir zustimmen
wirst, wenn du … den Zustand des Opfers gesehen hast.« Er hielt inne, wurde
abermals von einem Brechreiz geschüttelt, hatte aber bis auf etwas
Gallenflüssigkeit nichts mehr auszuspeien.
    Jasselin warf einen Blick auf die weit
geöffnete Haustür.
Ein Fliegenschwarm hatte sich davor gebildet, die Fliegen flogen summend im
Kreis, als warteten sie darauf, an die Reihe zu kommen. Vom Standpunkt einer
Fliege ist ein menschlicher Leichnam einfach Fleisch, nichts als Fleisch;
wieder drang ein grässlicher Gestank zu ihnen herüber, der wirklich
unerträglich war. Wenn er den Anblick am Tatort ertragen wollte, musste er wohl
für ein paar Minuten den Standpunkt einer Fliege einnehmen, sagte sich Jasselin
schnell, die bewundernswerte Objektivität der Fliege, Musca domestica . Jedes
Weibchen der Musca domestica kann bis zu fünfhundert und manchmal bis zu tausend
Eier legen. Diese Eier sind weiß und etwa 1,2 Millimeter lang. Nach einem
einzigen Tag schlüpfen die Larven ( Maden ) aus; sie ernähren sich von organischen Substanzen
(die im Allgemeinen tot sind und sich in einem fortgeschrittenen
Verwesungsstadium befinden, wie Kadaver, Abfälle oder Exkremente). Die Maden
sind fahlweiß und 3 bis 9 Millimeter lang. Sie laufen vorn konisch zu und haben
keine Beine. Nach der dritten Häutung kriechen die Maden an einen kühlen,
trockenen Ort und verpuppen sich.
    Erwachsene Fliegen leben in freier
Natur zwei bis vier Wochen und unter Laborbedingungen etwas länger. Nachdem sie
aus ihrer

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