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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Bekämpfung der Kriminalität
teil. Sie üben in einem gesetzlich festgelegten Rahmen gewisse Amtsbefugnisse hoher
Beamter aus.
    Zu Beginn ihrer Laufbahn liegen ihre
Bezüge bei 2898 Euro.
    Jasselin ging langsam eine Straße
entlang, die zu einem geradezu unwirklich grünen Wäldchen führte, in dem es
vermutlich von Schlangen und Fliegen wimmelte – oder sogar von Skorpionen und
Bremsen; Skorpione waren im Departement Yonne nicht selten, und manche wagten
sich sogar bis an die Grenzen des Loiret, das hatte er vor seiner Abfahrt aus
Paris auf Info Gendarmeries gelesen, einer ausgezeichneten Website mit
ausschließlich sorgfältig überprüften Informationen. Kurz gesagt, allem
Anschein entgegen musste man sich auf dem Land auf unliebsame Überraschungen
und häufig auf das Schlimmste gefasst machen, sagte sich Jasselin traurig. Das
Dorf selbst hatte einen sehr schlechten Eindruck auf ihn gemacht: Die ungemein
sauberen weißen Häuser mit den schwarzen Dachschindeln, die mit unerbittlicher
Strenge restaurierte Kirche, die betont spielerischen Hinweistafeln – all das
erweckte den Eindruck eines Filmdekors, eines unechten Dorfes, das für die
Bedürfnisse einer Fernsehserie originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Er
war im Übrigen keinem einzigen Bewohner begegnet. In so einer Umgebung konnte
man davon ausgehen, dass niemand etwas gesehen oder gehört hatte, die Aufgabe,
Zeugenaussagen zu bekommen, kündigte sich von vornherein als fast unmöglich an.
    Dennoch machte er noch einmal kehrt,
allerdings eher, um die Zeit totzuschlagen. Wenn ich einer Menschenseele
begegne, nur einer einzigen, sagte er sich in einer kindlichen Eingebung, wird
es mir gelingen, den Mordfall aufzuklären. Einen Augenblick lang glaubte er,
Glück zu haben, als er das Bistro Chez Lucie sah, dessen auf die Hauptstraße gehende Tür
offenstand. Er beschleunigte den Schritt, aber gerade als er die Straße
überqueren wollte, tauchte ein Arm – ein weiblicher Arm, Lucie persönlich? – in
der Türöffnung auf und zog heftig die Tür zu. Er hörte, wie der Schlüssel
zweimal im Schloss umgedreht wurde. Er hätte die Frau zwingen können, das
Bistro wieder zu öffnen und eine Zeugenaussage zu Protokoll zu geben, er verfügte
über die nötige Polizeigewalt, doch dieses Vorgehen schien ihm verfrüht.
Irgendjemand aus Ferbers Team würde das sowieso übernehmen. Ferber selbst war
hervorragend bei Zeugenbefragungen, niemand, der ihm begegnete, hatte den Eindruck,
es mit einem Bullen zu tun zu haben, und selbst nachdem er seinen
Polizeiausweis gezeigt hatte, vergaßen die Leute das sofort wieder – er
erweckte eher den Eindruck eines Psychologen oder Ethnologen – und vertrauten
sich ihm mit verblüffender Leichtigkeit an.
    Direkt neben dem Bistro Chez Lucie führte die Rue
Martin-Heidegger in einen Teil des Dorfes hinab, den er noch nicht erkundet
hatte. Er schlug diesen Weg ein und sann dabei über die fast absolute
Entscheidungsfreiheit nach, die Bürgermeistern bei der Namensgebung der Straßen
in ihrer Gemeinde eingeräumt wurde. An der Ecke der Impasse Leibniz blieb er
vor einem grotesken, mit grellen Acrylfarben auf ein Blechschild gepinselten
Bild stehen, das einen Mann mit einem Entenkopf und einem überdimensionalen
Penis darstellte; sein Brustkorb und seine Beine waren von einem dichten
braunen Pelz bedeckt. Einer Hinweistafel entnahm er, dass er sich vor der
»Klapsmuse« befand, einem Museum für Art brut , das den malerischen Erzeugnissen von Geisteskranken
aus der Anstalt von Montargis gewidmet war. Seine Bewunderung für den
Erfindungsreichtum der Gemeinde wuchs noch, als er die Place Parménide
erreichte und einen nagelneuen Parkplatz entdeckte – die weißen Farbstreifen,
die die für die Fahrzeuge vorgesehenen Plätze eingrenzten, waren vermutlich
noch keine Woche alt –, ausgerüstet mit einem elektronischen
Parkscheinautomaten, der europäische und japanische Kreditkarten annahm. Im
Moment parkte dort ein einziges Fahrzeug, ein wassergrüner Maserati GranTurismo,
dessen amtliches Kennzeichen sich Jasselin für alle Fälle notierte. Im Rahmen
einer Fahndung war es, wie er seinen Studenten in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or stets
eingeschärft hatte, eine Grundregel, sich Notizen zu machen – zu diesem
Zeitpunkt seines Vortrags holte er immer seinen eigenen Notizblock hervor, ein
gängiges Produkt der Marke Rhodia im Format 105 x 148 mm. Man dürfe während
einer Ermittlung nicht einen Tag vergehen lassen, ohne sich wenigstens

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