Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
eine
Notiz zu machen, hämmerte er ihnen ein, selbst wenn das festgehaltene Detail
zunächst völlig unwichtig erscheine. In der Folge der Ermittlung stelle sich fast
immer heraus, dass dieses Detail tatsächlich unwichtig war, aber das sei nicht
die Hauptsache: Die Hauptsache sei es, aktiv zu bleiben und eine minimale
intellektuelle Tätigkeit beizubehalten, denn ein untätiger Kriminalbeamter
lasse sich entmutigen und sei dadurch unfähig zu reagieren, wenn plötzlich wichtige
Einzelheiten ans Licht kamen.
Erstaunlicherweise formulierte
Jasselin, ohne es zu wissen, fast die gleichen Empfehlungen wie jene, die
Houellebecq im April 2011 an der Universität Louvain-la-Neuve bezüglich des
schriftstellerischen Berufs gegeben hatte, als er sich, übrigens zum einzigen
Mal, bereiterklärt hatte, einen Workshop für creative
writing zu leiten.
In südlicher Richtung endete das Dorf
am Rond-point Emmanuel-Kant, einem Paradebeispiel für städtebauliches Genie: ein
einfacher, mit tadellos grauer Schotterdecke versehener Kreisel von großer
ästhetischer Nüchternheit, der nirgendwohin führte – keine Straße zweigte von
ihm ab, kein einziges Haus war in seiner Nähe errichtet worden. Ein bisschen
weiter hinten plätscherte ein Fluss gemächlich dahin. Die auf die Wiesen
fallenden Sonnenstrahlen wurden allmählich immer heißer, doch zum Glück boten
die Zitterpappeln, die den Fluss säumten, ein wenig Schatten. Jasselin ging
etwa zweihundert Meter an dem Gewässer entlang, bis ihn ein Hindernis zwang,
Halt zu machen: Eine breite, schräg verlaufende Betonrampe, deren oberes Ende
sich auf Höhe des Flussbetts befand, versorgte eine Ableitung mit Wasser, einen
winzigen Bach, der, wie Jasselin nach ein paar Metern feststellte, eher ein
länglicher Tümpel war.
Er setzte sich am Ufer des Tümpels ins
dichte Gras. Selbstverständlich konnte er nicht wissen, dass das Fleckchen
Erde, an dem er sich ermüdet niedergelassen hatte, um sich ein wenig von seinen
Kreuzschmerzen und den im Lauf der Jahre zunehmenden Verdauungsschwierigkeiten
zu erholen, genau das Fleckchen war, das Houellebecq in seiner Jugend als
Schauplatz für seine Spiele gedient hatte – die zumeist einsame Spiele gewesen
waren. In Jasselins Vorstellung war Houellebecq nur ein Fall , ein Fall, von dem er
ahnte, dass er unangenehm sein würde. Bei Morden an Prominenten erwartete die Öffentlichkeit eine äußerst rasche
Aufklärung des Verbrechens; ihr Hang, die Arbeit der Polizei herabzuwürdigen
und ihre Unfähigkeit zu verspotten, kam bereits nach ein paar Tagen zum
Ausdruck. Noch schlimmer war nur die Aufgabe, einen Kindesmord aufzuklären, und
erst recht, wenn es sich um den Mord an einem Baby handelte: Bei Babys war es grässlich, in solchen Fällen
musste der Mörder möglichst umgehend gefasst werden, noch ehe er um die
Straßenecke verschwunden war, einen Zeitraum von achtundvierzig Stunden
betrachtete die Öffentlichkeit bereits als unzumutbar. Er warf einen Blick auf
seine Armbanduhr, er war schon seit über einer Stunde fort und machte sich kurz
den Vorwurf, dass er Ferber so lange allein gelassen hatte. Die Oberfläche des
Tümpels war von Wasserlinsen bedeckt, seine Farbe undurchsichtig, ungesund.
III
A LS ER WIEDER AN DEN T ATORT zurückkehrte, war die Temperatur leicht gefallen, und
er hatte auch den Eindruck, dass die Fliegen nicht mehr ganz so zahlreich
waren. Ferber lag im Gras – sein zusammengerollter Anorak diente ihm als Kopfkissen –, noch immer in die Lektüre von Aurelia vertieft. Er erweckte jetzt den Eindruck, als sei er
zu einem Ausflug aufs Land eingeladen worden. »Er ist wirklich ein
widerstandsfähiger Kerl«, sagte sich Jasselin, vermutlich zum zwanzigsten Mal,
seit er ihn kannte.
»Sind die Gendarmen schon wieder
weggefahren?«, fragte er verwundert.
»Es waren ein paar Typen da, die sich
um sie kümmern sollen. Von der Abteilung für psychologische Nothilfe am
Krankenhaus in Montargis.«
»So schnell schon?«
»Ja, das hat mich auch gewundert. Die
Arbeit der Gendarmen ist in den letzten Jahren immer härter geworden, bei denen
gibt’s jetzt fast so viele Selbstmorde wie bei uns; aber man muss zugeben, dass
die psychologische Betreuung große Fortschritte gemacht hat.«
»Woher weißt du das denn? Hast du das
den Selbstmordstatistiken entnommen?«
»Liest du nie die Fachzeitschrift für Sicherheitskräfte ?«
»Nein.« Er ließ sich schwerfällig
neben seinen Kollegen ins Gras sinken. »Ich lese im Allgemeinen
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