Karwoche
in feinste Scherben zerbarst.
Sie hielt still, lauschte. Hatte er es gehört? Eine Weile verharrte sie in absoluter Starre. Keine Schritte. Der Schweiß lief ihr über die Augenbrauen und an den Schläfen hinab, obwohl es im Keller nicht warm war. Als sich nach einer weiteren Minute immer noch nichts rührte, klemmte sie den Schaufelstil zwischen ihrem Rücken und der Wand ein und suchte mit den Händen die rostige Kante des Blattes. Da ihre Hände taub waren, erahnte sie es mehr, als dass sie es spürte. Sie setzte das Seil, mit dem ihre Hände gefesselt waren, an der Blattkante an und rieb hin und her. Das kostete Kraft, das Blatt wich immer wieder zur Seite aus und bot keinen rechten Widerstand, bis es ihr gelang, die Schaufel stabil in die Ecke zwischen Wand und Regal einzuklemmen.
Sie schabte und schabte und rammte sich mehrmals das Metall in die Handballen. Doch sie spürte keinen Schmerz. Nur als sie Daumen und Mittelfinger aneinanderrieb, war ihr, als habe sie eine ölige Flüssigkeit auf den Fingerkuppen. Es musste Blut sein. Immer wieder rutschte die Schaufel aus ihrer Position und kippte lärmend gegen das Regal. Dann hielt Jennifer still und horchte ins Haus hinein. Einmal meinte sie, das Knarren einer Diele zu hören. Aber ein Haus machte viele Geräusche, versuchte sie, sich zu beruhigen, und fuhr fort, ihre Fesseln zu zerschneiden. Nach nicht enden wollenden Anstrengungen riss die letzte Faser des Seils. Ihre Hände waren frei. Schmutzig, blutig, taub und von Schnitten übersät. Sie versuchte, das Tape vom Mund zu ziehen. Aber es ging nicht. Ihre Finger waren gefühllos. Nur ein Kribbeln kündigte an, dass das Blut langsam in sie zurückkehrte. Ebenso wenig gelang es ihr, die Fesseln an den Füßen aufzuknoten. Sie starrte ihre nutzlosen Hände an, und Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Mit wilden Bewegungen schüttelte sie ihre Arme, um die Wiederbelebung zu beschleunigen.
»Dich kann man doch keine halbe Stunde allein lassen.« Er stand auf der Kellertreppe. Der Ausdruck in seinem Gesicht war kälter geworden.
Kapitel 62
D er Streifenwagen hielt vor der Schranke. Schartauer löste seinen Gurt und wollte aussteigen.
»Wo willst denn hin?«, fragte Kreuthner.
»Zu Fuß weiter. Das ham s’ doch gesagt. Bis zur Schranke und dann zu Fuß.«
»Wozu ham mir an Streifenwagen, wenn mir dann doch zu Fuß gehen?«
»Aber mir ham keinen Schlüssel für die Schranke.«
»Na, hamma net. Aber a Hirn hamma, wo mir uns erst amal fragen können, ob mir überhaupts an Schlüssel brauchen.«
Schartauer sah auf die grün lackierte Eisenschranke, die den Forstweg in Richtung Hütte versperrte. Einen Meter links von der Schranke war eine kleine Felswand, keine zwei Meter hoch. Aber doch eine Felswand, fast senkrecht. Rechts neben der Schranke ging es ins Tal hinunter, allerdings erst nach eineinhalb bis zwei Metern. Da hätte ein Wagen knapp Platz gehabt, wäre nicht am Rand des Abhangs eine mannshohe Jungfichte gestanden, die die Durchfahrt auf einen Meter verengte.
»Links oder rechts vorbei?«
»Links? Wie denn?«
»Rechts passen mir auch net durch.«
»Ich seh da nur so an mickrigen Christbaum.«
»Willst den umnieten?«
»Du Scherzkeks. Hier geht’s um Leben und Tod. Glaubst, da kommt’s auf des bissl Grünzeug an?«
»Und du meinst, dann is es breit genug für den Wagen?«
Kreuthner schenkte Schartauer ein selbstgefälliges Lächeln und setzte ein Stück zurück.
»Soll ich aussteigen und dich einweisen?«
»Entspann dich und schau zu, wie man so was macht.«
Mit diesen Worten gab Kreuthner Gas und fuhr sehr knapp rechts neben die Schranke.
»Wichtig ist, dass du den gesamten Platz ausnutzt. Der Wagen is net so breit, wie er ausschaut.«
Ein hässliches Knirschen unterbrach Kreuthners Vortrag. Dann folgte ein Knall. Der Schrankenpfosten hatte den Türgriff abgerissen. Kreuthner sagte nichts mehr und setzte den Wagen wieder ein Stück zurück. Auch Schartauer war klar, dass Kreuthner sich jetzt konzentrieren musste und es besser war, Bemerkungen zu unterlassen. Beim Zurücksetzen war unvermeidlich noch einmal jenes Knirschen zu vernehmen. Kreuthner ließ die Scheibe herunter und begutachtete den tiefen Kratzer in der Wagentür. Beim nächsten Versuch kam er zwar am Schrankenpfosten vorbei, doch verschwand die junge Fichte, die Schartauer soeben noch im Seitenfenster der Beifahrertür gesehen hatte, mit lautem Rascheln und Knacken aus dem Blickfeld. Schartauer hielt seinen rechten
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