Karwoche
an. »Ich glaub’s nicht.«
Adrian war aufgestanden und ging unruhig im Zimmer umher. »Wir können doch nicht zulassen, dass eine Verrückte – tut mir leid, sie ist es nun mal –, dass sie unsere Familie zerstört.« Er ging kopfschüttelnd im Kreis und murmelte grimmig vor sich hin. Schließlich goss er sich eine halbe Flasche Rotwein ins Glas, nahm drei kräftige Schlucke, blickte, bühnenreif, mit ausgebreiteten Armen, in der einen Hand die Flasche, in der anderen das Glas, auf die Anwesenden und schrie: »Ich jedenfalls werde es nicht zulassen!«
Kapitel 59
A m nächsten Morgen standen Katharina und Wolfgang stumm vor der Leiche, über die Wolfgang eine Decke gebreitet hatte. Es war eisig im ehemaligen Pferdestall, ihr Atem kondensierte. An manchen Stellen sah gefrorenes Blut unter der Decke hervor. Seit Katharina ihre tote Tochter entdeckt hatte, war eine Viertelstunde vergangen. Nach dem ersten Zusammenbruch beim Anblick der Leiche hatte Katharina es unter Aufbietung all ihrer Kräfte geschafft, ihre Gedanken auf einen einzigen Punkt zu fokussieren: die Rettung der Familie.
»Was sollen wir machen?« Wolfgang wirkte hilflos und zitterte immer noch.
»Ich weiß es nicht. Wenn es einer aus der Familie war …«
»Ich kann das nicht glauben. Das bringt keiner von uns über sich.« Er starrte auf die gefrorenen Blutrinnsale.
Auch Katharina fröstelte und steckte die Hände in ihren Hosenbund.
»Wir haben alle zu viel getrunken gestern. Das macht mir Angst.«
Wolfgang blickte durchs Fenster zum Haupthaus hinüber. Es war so still da drüben. Schliefen wirklich alle?
»Ich fürchte, wir müssen das der Polizei überlassen. Sie werden rausfinden, wer es war.«
Katharina schüttelte heftig den Kopf.
»Was heißt das?« Wolfgang war irritiert.
»Wenn die Polizei ermittelt, werden sie den ganzen gestrigen Abend aufrollen. Dieses Mädchen, das Henry mitgebracht hat, sie hat nicht den geringsten Grund, etwas zu verschweigen. Sie werden die Missbrauchsgeschichte aufdecken und dass wir seit Jahren ein Verhältnis haben. Dann werden sie mich in den Medien in Stücke reißen, und die Paparazzi werden Jagd auf uns machen. Auf uns alle. Wie Adrian gesagt hat: Das wird die Familie nicht überleben.«
»Du machst mir Angst. Wie kannst du nur so ruhig sein?«
»Mir ist das Schlimmste passiert, was einer Mutter passieren kann. Aber ich muss stark bleiben. Sonst geht meine Familie vor die Hunde. Ich darf jetzt nicht die Nerven verlieren. Verstehst du das?«
»Was sollen wir tun?«
»Die Polizei darf nicht ermitteln.«
»Du willst doch nicht die …«, er zögerte, »… die Leiche verschwinden lassen?«
»Natürlich nicht. Es reicht, wenn der Täter sich stellt und der Polizei eine Geschichte erzählt, in der verschiedene Dinge nicht vorkommen. Und das müssen wir uns genau überlegen. Wie diese Geschichte aussehen sollte.«
»Du willst also, dass sich der Täter stellt.« Er nickte. Es war mehr Feststellung als Frage. »Und wenn es keiner zugeben will?«
»Das glaube ich nicht. Niemand kann mit dieser Schuld leben.«
»Zehn Jahre im Gefängnis sind eine lange Zeit. Oder wie viel bekommt man dafür?«
Sie schwieg, dachte nach und achtete darauf, dass ihr Blick sich nicht an der Pferdedecke verfing. Sie ging zum Fenster und sah hinüber, wo sie alle noch schliefen und keine Ahnung hatten, was der Weihnachtstag ihnen bringen würde. Bis auf einen. Wolfgangs Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Katharina …«
Sie drehte sich um. Er wirkte verändert.
»Wenn sich keiner bekennt, hätte ich einen Vorschlag.« Hilflosigkeit und Unsicherheit waren aus seinem Gesicht gewichen. Er strahlte im Gegenteil Beherrschtheit und Ruhe aus. Die Ruhe eines Mannes, der entschieden hat, welchen Weg er gehen muss. »Ich verdanke dieser Familie viel. Vor allem dir und Dieter.«
»Du schuldest uns nichts.«
»Ich schulde euch mehr, als ich zurückzahlen kann. Lass mich etwas von meiner Schuld abtragen.«
»Nein. Das kann ich nicht annehmen.« Ihre Stimme war panisch.
»Im Gegenteil. Das kannst du nicht ablehnen. Denn was ich tun werde, werde ich für die Familie tun.«
»Auf keinen Fall! Du darfst nicht ins Gefängnis gehen. Was mach ich ohne dich?«
»Ich sage nicht, dass ich der Einzige bin, der ein Opfer bringt.« Er nahm ihre kalten Hände und wärmte sie unter seinem Pullover. »Wir müssen uns eine Geschichte überlegen, mit der ich möglichst schnell wieder bei dir bin.«
Katharina nickte und küsste ihn.
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