Karwoche
Schließlich konnte sie nicht mehr an sich halten und sah zu ihrem toten Kind. Eine Viertelstunde lang weinte sie alles, was sie an Tränen hatte. Dann ging sie ins Haupthaus und rief die Familie zusammen.
Kapitel 60
D as heißt, Sie wissen nicht, wer Ihre Tochter erschossen hat?«, fragte Mike.
Katharina Millruth schwieg, schüttelte schließlich langsam den Kopf.
»Interessiert es Sie nicht? Ich meine, Sie müssen doch jeden aus der Familie verdächtigen. Ihren Mann, Ihre zwei Söhne. Wie kann man so leben?«
»Irgendwie geht es. Wir denken nicht mehr daran. Nur beim Prozess ist alles noch einmal hochgekommen.«
»Haben Sie eine Vermutung, wer es war?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es kann Dieter gewesen sein. Aber vielleicht war es auch Adrian. Er war an Heiligabend so wahnsinnig wütend auf Leni.«
»Auch Henry kann man nicht ausschließen«, sagte Wolfgang. »Er hängt an seinem Vater. Vielleicht wollte er ihm seine Treue beweisen. Keine Ahnung. Jedenfalls war auch Henry ziemlich betrunken. Es kann ja sein, dass es im Affekt passiert ist. Nehmen wir an, er hat sie nachts im Pferdestall angetroffen und versucht, es ihr auszureden. Oder sie zumindest dazu zu bringen, keine Anzeige zu erstatten. Sie konnte sehr verletzend sein.«
»Aber deswegen die eigene Schwester zu erschießen …«
»Das kann sich keiner vorstellen. Natürlich nicht.« Sie nahm ihre Tasse vorsichtig in beide Hände und betrachtete den Kaffeesatz. »Dennoch ist es passiert.«
»Wer von Ihnen hatte noch Kontakt zu Jennifer Loibl?«
Wolfgang Millruth zuckte mit den Schultern.
»Henry hat unmittelbar nach Weihnachten mit ihr Schluss gemacht«, sagte Katharina Millruth.
»Er hat sie nie wiedergesehen?«
»Jedenfalls hat er nichts davon erzählt. Die anderen hatten meines Wissens keinen Kontakt zu ihr. Wir haben sie ja kaum gekannt.«
»Gut«, sagte Mike. »Geben Sie uns jetzt bitte die Handynummern Ihrer Söhne und Ihres Mannes.«
Mike rief alle drei Nummern an und sprach jedes Mal eine Bitte um Rückruf auf die Mailbox.
»Wenn sie im Wald sind, schalten sie die Handys meist aus«, sagte Katharina Millruth.
»Sind alle drei zusammen weggefahren?«
»Adrian ist vorausgefahren. Henry und mein Mann etwas später. Aber jeder mit seinem eigenen Wagen.«
»Wann sind sie weg?«
»Vor zwei oder drei Stunden.«
Mike und Wallner wurden langsam nervös.
»Wie können wir sie sonst erreichen?«
»Gar nicht. Sie werden sich irgendwann melden.«
»Das ist mir definitiv zu spät.« Mike stand auf, blickte über den Schliersee zu den Bergen, die die beiden großen Seen des Landkreises trennten.
»Die Jagdpacht ist also am Spitzingsee?«, fragte Wallner.
Wolfgang Millruth bejahte das.
»Haben Sie dort zufällig eine Hütte?«
»Nein. Wozu auch? Wir würden sie ohnehin nicht nutzen.« Katharina Millruth sah ihren Schwager, eine Bestätigung erwartend, an. Der machte eine vage Geste.
»Hattest du nicht Oliver zum Grundbuchamt geschickt?«, wandte sich Wallner an Mike.
»Ja. Aber der hat noch nicht zurückgerufen. Schauen wir mal.«
Mike rief Oliver auf dem Handy an. Der hatte mittlerweile einen Rechtspfleger namens Joseph Gscheindl aufgetrieben. Schon den Namen auszusprechen, hatte Olivers Berliner Zunge Probleme gemacht. Noch mehr allerdings, dem Mann zu erklären, dass er einem ihm unbekannten Preußen am Ostersonntag Zutritt zu den Räumlichkeiten des Miesbacher Grundbuchamtes verschaffen und ihm obendrein etwas im Computer heraussuchen sollte. Zum Glück konnte sich Oliver daran erinnern, den Namen Gscheindl irgendwo in Zusammenhang mit der Erstbesteigung eines Berges in Patagonien in den achtziger Jahren gelesen zu haben. Das war zwar der ältere Bruder des Rechtspflegers gewesen, und er war auch nicht bis auf den Gipfel gekommen, sondern hatte beim Absturz zwei andere Bergkameraden mit in den Tod gerissen. Gscheindl freute sich trotzdem, dass der Preuße seinen Bruder kannte, und erfüllte Oliver seinen Wunsch. Oliver war tatsächlich fündig geworden. Eine Hütte zwei Kilometer südlich des Sees gehörte ausweislich des Grundbuchs Dieter Millruth.
Katharina Millruth war erstaunt und konnte sich das nicht erklären. Sie wusste nichts von dieser Hütte.
»Er hat sie Ende der achtziger Jahre gekauft«, gestand Wolfgang Millruth.
»Du wusstest davon?«
»Ja. Ich hab da sogar ab und zu übernachtet, wenn Jagdsaison war. Ich dachte, du weißt Bescheid.«
Nein, das hatte sie nicht gewusst. Und ihr Blick verriet, dass sie sehr
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