Karwoche
Daumen nach oben und machte ein anerkennendes Gesicht, das sich jedoch unmittelbar darauf in einen Ausdruck höchsten Erstaunens verwandelte, denn nicht nur die kleine Fichte sackte rechts weg, sondern auch der Streifenwagen. Später, als der Wagen mit dem Heck an einer großen Buche zu stehen gekommen war und die Polizisten sich aus dem Fahrzeug gekämpft hatten, stellte sich heraus, dass die Fichte auf einem unterspülten Überhang gewurzelt hatte.
»Das wär eh irgendwann abgegangen«, relativierte Kreuthner das Missgeschick. Sie setzten den Weg zu Fuß fort.
Er hatte das Mädchen mit der Faust an der Schläfe getroffen. Es war zusammengesackt. Dann hatte er Jennifer zur Matratze geschleift, auf den Bauch gedreht und ihr die Hände wieder gefesselt. Jetzt stand er vor dem reglosen Körper und überlegte, was er tun sollte. Er brauchte sie nicht mehr. Sie war nur noch eine Gefahr. Eine größere Gefahr als alle vor ihr. Es gab nur eine Lösung. Dass er so zögerlich war, irritierte ihn. Er hatte es mehrfach getan. Sie schlief, es wäre ganz einfach. Noch einmal die Nase zuhalten. Vielleicht reichte es, ihr Gesicht nach unten auf die Matratze zu pressen. Warum zögerte er? Es würde das letzte Mal sein. Oder war er schon so weit, dass er es aus anderen Gründen tat? Würde er nicht mehr aufhören können? Jennifer Loibl amtete ruhig, ihre geschlossenen Augen strahlten Frieden aus, sie machte leise Geräusche. Wenn es so etwas wie Gerechtigkeit gab, musste das schlafende Mädchen weiterleben und er von der Erde radiert werden. Nur – Gerechtigkeit existierte nicht. Jennifer gab einen kindlichen Laut von sich, und es überkam ihn – nur für einen Augenblick – der Wunsch, das Mädchen am Leben zu lassen. Er könnte etwas Gutes tun, bevor er ins Gefängnis ging, um seine Taten zu sühnen und Seelenfrieden zu finden. Indes – das Gefängnis schien ihm kein Ort, an dem jemand Seelenfrieden versteckt hatte. Mit dem Seelenfrieden verhielt es sich wohl so wie mit der Gerechtigkeit – es war ein leuchtendes Ziel, wenn man es ansteuerte. Irgendwann aber würde man erkennen, dass es eine Fata Morgana war.
Langsam gewann die Klarheit in seinem Kopf wieder die Oberhand. Er war weit gegangen. Sollte er kurz vor dem Ziel stehen bleiben und sich von rührseligen Trugbildern einlullen lassen? Nein, das war nicht die Lösung. Er betrachtete seine Hände, dann das schlafende Gesicht mit dem silbernen Klebeband auf dem Mund. Die Nasenflügel blähten sich ein wenig beim Einatmen. Er würde ihren Kopf nehmen und die Nase zudrücken, wie er es vorhin schon einmal getan hatte. Nur etwas länger. Zwei, drei, höchstens vier Minuten musste er durchhalten, dann war alles vorbei. In diesem Moment hörte er von draußen Stimmen.
Neben der Hütte stand ein grauer Geländewagen, dessen Besitzer offenbar einen Schrankenschlüssel hatte. Die Tür war geschlossen. Die beiden Polizisten umrundeten das Gebäude und entdeckten niemanden. In die Fenster konnte man nicht sehen, denn die Hütte stand auf abschüssigem Gelände und ragte deshalb auf der Giebelseite zu hoch über den Boden hinaus, erst der ehemalige Stall war ebenerdig. Sie gingen auf die Terrasse, und Kreuthner klopfte an die Tür. Unmittelbar darauf hörten sie Schritte, und ein Mann öffnete. Kreuthner erkannte Dieter Millruth. Der sah die Kommissare erstaunt an.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Dürfen wir reinkommen?«
»Nein«, sagte Dieter Millruth, trat zu den Polizisten auf die Terrasse und schloss die Haustür hinter sich. »Warum bei dem schönen Wetter in der Hütte hocken? Genießen Sie die Sonne. Dann haben Sie auch was von Ostern.« Er verschränkte die Arme vor dem Körper und lehnte sich an den Türstock. »Also – was gibt’s?«
»Sind Sie allein hier?«
»Ja. Warum?«
»Sie kennen eine Jennifer Loibl?«
»Der Name kommt mir bekannt vor. Weiß aber im Augenblick nicht, wo ich ihn hintun soll.«
»Das war die Freundin von Ihrem Sohn Henry. Weihnachten war die bei Ihnen.«
»Ach Gott, ja. Stimmt. Henry hat sich von ihr getrennt. Ich hab sie seit Weihnachten nicht gesehen.«
»Tatsächlich. Sind Sie sicher?«
»Wie senil seh ich denn aus? Ein Tipp für den weiteren Verlauf dieses Gesprächs: Fragen Sie nie wieder, ob ich mir sicher bin. Ich bin mir immer sicher. Wenn nicht, dann sage ich es.«
»Das ist ja sehr gut, dass Sie so ein tolles Gedächtnis haben. Es ist nur so, dass hier irgendwas merkwürdig ist. Wenn mir uns nicht sehr
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