Karwoche
verärgert war.
»Du hast ihm ja auch nicht immer alles erzählt.«
»Darum geht’s nicht.«
»Worum dann?«
»Kann es sein, dass er Leni dahin mitgenommen hat, wenn ich weg war?« Sie packte ihren Schwager am Arm und zerrte an ihm. »Ist er mit ihr dahin gefahren? Das musst du doch mitbekommen haben?«
»Ich weiß es nicht. Natürlich ist er mal mit ihr weggefahren. Zum Baden, zum Reiten, zum Bergsteigen. Glaubst du, er hätte mir gesagt, ich fahr jetzt mit deiner Nichte in meine einsame Hütte und, und …?«
»Wie kommt man zu der Hütte?«, wollte Wallner wissen.
Wolfgang Millruth beschrieb den Weg zur Schranke und von da zur Hütte. Auf dem Weg nach draußen nahm Mike sein Handy aus der Jacke und wählte eine Nummer.
»Wen rufst du an?«
»Wir brauchen mindestens eine halbe Stunde, wahrscheinlich länger. Der Kreuthner ist meines Wissens in der Gegend unterwegs.«
»Ein anderer nicht, oder?«, sagte Wallner.
Mike schüttelte bedauernd den Kopf.
Kapitel 61
S ie hatte sich gewehrt. Die Todesangst hatte ungeheure Kräfte in ihr freigesetzt. Es hatte nichts genutzt. Sie war gefesselt, und er war stärker. Er hatte ihr die Nase mit eisernem Griff zugehalten, und je mehr sie zuckte und sich wehrte, desto schneller sank der Sauerstoffspiegel in ihrem Blut. Schließlich war nicht mehr genug vorhanden, um das Gehirn zu versorgen. Sie wurde ohnmächtig. Nicht für lange. Er schüttete ein Glas Wasser über ihr Gesicht und kniete sich neben die Matratze.
»Das möchtest du nicht noch einmal erleben, da bin ich mir sicher«, sagte er und strich ihr mit dem Mittelfinger über die Nase. Sie schmerzte. Er hatte zugedrückt wie ein Schraubstock. Aber das war ihr geringstes Problem. Er würde sie wieder nach dem Plüschlamm fragen. Wenn sie keine Antwort gab, würde er ihr noch einmal die Luft nehmen. Sie wusste nicht, ob sie das ein weiteres Mal aushalten konnte. Vielleicht würde sie nicht mehr aufwachen. Wenn sie ihm sagte, wo das Plüschtier war – würde er Jana am Leben lassen? Vielleicht würde er nur hinfahren und ihr sagen, er komme von Jennifer und solle das Lamm abholen. Er musste sie nicht umbringen. Und es waren noch andere im Haus, Jana war nicht schutzlos. Doch was würde mit ihr selbst geschehen? Wenn er sie nicht mehr brauchte, weil er hatte, was er wollte.
»Pass auf! Ich frage dich jetzt noch einmal: Wo ist das Lamm? Sagst du es mir?«
Sie nickte heftig mit weit aufgerissenen Augen. Seine Hand schwebte auf ihr Gesicht zu, um das Tape vom Mund zu reißen. Da hörte sie von oben ein Handy klingeln. Er hielt inne, lauschte, stand schließlich auf und ging hinaus.
Sie wartete auf die Rückkehr seiner Schritte. Sie kamen nicht. Stattdessen meinte sie zu hören, dass sich seine Schritte noch weiter entfernten. Wo wollte er hin? Aus einiger Entfernung vernahm sie ein Bellen – das tiefe Bellen eines großen Hundes. War das Othello, der Labrador der Millruths? Wo kam der mit einem Mal her? War noch jemand gekommen? Jennifer verstand das alles nicht und lauschte, ob sie etwas hören konnte, das ihr die Orientierung erleichterte. Doch auch das Bellen hörte auf. Dann war Stille. Von ganz weit her meinte sie, menschliche Stimmen zu hören. Aber womöglich war das mehr Wunsch als Wahrnehmung.
Sie wartete. Wie lange, konnte sie nicht sagen. Jede Minute war wie eine Ewigkeit. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und sie machte diverse Gegenstände in ihrem Verließ aus. Eine Schaufel, zwei alte Bergsteigerrucksäcke, wie man sie aus Luis-Trenker-Filmen kannte. Ein Regal mit alten Farbtöpfen, Sportschuhen und einer ausrangierten Kaffeemaschine. Neben dem Regal ein länglicher Gegenstand, eine Schaufel mit spitz zulaufendem Blatt, wie sie erkennen konnte, wenn sie den Kopf etwas drehte. Das Schaufelblatt war alt und an den Rändern schartig, und es starrte vor Rost. Sie lauschte in das Dämmerlicht hinein. Nichts. Draußen Vogelgezwitscher. Doch im Haus war es still. Sie wartete weitere fünf Minuten, dann wagte sie, sich auf die Seite zu drehen, rollte sich auf den Bauch und zog die Beine unter ihre Brust. Zweimal kippte sie zur Seite auf die Matratze, bis sie es schaffte aufzustehen. Ihre Beine waren an den Knöcheln zusammengebunden. Sie hüpfte zur gegenüberliegenden Wand, bis sie den Spaten erreicht hatte. Beim Hinsetzen verlor sie erneut das Gleichgewicht und prallte gegen das Regal. Die Kaffeemaschine fiel ihr auf den Kopf, dann auf den Boden, wo die gläserne Kanne
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