Karwoche
Adrian und Henry kurz hintereinander zu Hause eingetroffen. Wolfgang wurde dazugebeten, um einen Familienrat abzuhalten. Katharina wirkte ruhig und beherrscht. Nur dass ihr mehrfach Dinge aus der Hand fielen, zeugte von ihrer inneren Anspannung.
»Die Polizei war hier«, sagte Katharina. »Ich will jetzt die Wahrheit wissen.« Mehr sagte sie nicht, bis auch Dieter zu ihnen stieß. Der sah sich beim Eintreten in den Salon einer schweigenden Familie gegenüber.
»Was ist los?«, fragte er.
»Setz dich«, sagte Katharina und ging hinaus. Nach einer Weile kam sie wieder und hielt Dieter eine Schrotflinte ins Gesicht.
»Ich will endlich die Wahrheit wissen!«, schrie sie und zitterte am ganzen Leib. »Was hast du mit meiner Tochter gemacht?«
»Sie haben dir das Foto gezeigt.« Er sagte das mehr im Ton einer Feststellung und nickte dabei nachdenklich.
»Wie konntest du das tun? Ich begreife das nicht. Sag’s mir! Gib mir irgendeine Erklärung!«
»Dass es dieses abscheuliche Foto gibt, bedeutet nicht, dass ich es war!«
»Wer sonst?«
»Ich weiß es nicht. Es sitzen hier noch andere im Raum, die in Frage kommen.«
In den Gesichtern von Adrian, Henry und Wolfgang mischten sich Unglaube und Empörung.
»Willst du behaupten, einer von uns war das?« Adrian stand auf und ging zu seiner Mutter.
»Ich behaupte gar nichts, Herrgott! Ich sage nur: Ich war es nicht. Und nimm endlich die verdammte Flinte von meinem Gesicht!«
»Das tue ich, sobald ich weiß, was damals passiert ist, oder wenn ich abgedrückt habe.«
»Komm, Mama! Beruhige dich wieder und gib mir das Gewehr«, sagte Henry, der jetzt ebenfalls aufstand und Anstalten machte, zu Katharina zu gehen.
»Setz dich hin.« Da war ein Unterton in Katharinas Stimme, der Henry veranlasste, ihrer Bitte Folge zu leisten.
Dieter, anfangs noch von pastoraler Ruhe, wenn man berücksichtigte, dass ein geladenes Gewehr auf seinen Kopf gerichtet war, wurde zusehends nervöser und fing an zu schwitzen. Er begriff, dass sich seine Frau in einem Gemütszustand befand, in dem sie fähig war, ihn zu töten.
»Du hast unser Kind vergewaltigt, und du hast mir ins Gesicht gelogen. Ich weiß nicht mehr, warum ich dich damals geheiratet habe, ich weiß nur, dass ich es heute bereue. Und dass du für das büßen wirst, was du getan hast.«
Wolfgang hatte einen sehr wachen Blick auf das Gewehr und seine Geliebte. »Katharina – es ist nicht deine Sache, für Gerechtigkeit zu sorgen. Tu bitte das Gewehr weg.«
»Halt dich da raus.« Sie kam mit dem Gewehrlauf näher und drückte ihn schließlich Dieter auf die Stirn. Dieter schluckte und schloss die Augen. »Du leugnest es also immer noch. Sei wenigstens einmal ein Mann und gib es zu, bevor du zur Hölle fährst.«
Dieter Millruth war paralysiert und unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Der Schuss versetzte alle am Tisch in einen Todesschrecken.
Er hatte es eilig gehabt wegzukommen, sich aber dennoch so viel Zeit genommen, sie mit vier Spanngurten an der Matratze zu fixieren, zwei für den Rumpf, je einer für Beine und Kopf. Sie konnte sich ein wenig aufrichten, wenn sie sich anstrengte. Aber das kostete mehr Kraft, als sie hatte. Etwa ein halbes Dutzend alter Decken lagen auf ihrem Gesicht. Die hatte er ihr hastig übergeworfen, um sicherzustellen, dass sie keinen Lärm machte. Es gab eine kleine Luftkammer, aber der Sauerstoffanteil in der Atemluft wurde immer geringer, und von außen kam zu wenig frische Luft nach. Sie fragte sich, ob er wiederkommen würde. Oder war das der Tod, den er für sie bestimmt hatte? Langsam unter einem Haufen alter Decken zu ersticken?
Mike und Wallner waren durch das offene Einfahrtstor auf das Grundstück gefahren, ohne zu läuten. An der Haustür hatten sie laute Stimmen gehört und beschlossen, die Unterhaltung nicht zu stören. Vielleicht war die Familie gerade in einem Prozess der Wahrheitsfindung begriffen. Die Tür war nicht abgesperrt, und so betraten Mike und Wallner unbemerkt das Haus. Als sie sahen, dass Katharina Millruth ihren Mann mit einer Flinte bedrohte, und das in einem Zustand beängstigender Erregung, schoss Mike in die Zimmerdecke, und Wallner entwand der Frau das Gewehr, bevor die richtig begriff, was vorgefallen war. Sie stand zitternd im Raum und starrte den Kommissar an.
»Das ist nicht die Lösung Ihrer Probleme. Es reicht, dass Ihre Tochter erschossen wurde.«
Katharina setzte sich auf einen Stuhl und wartete wie alle anderen darauf, was die
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