Karwoche
sie Material für eine Arbeit über Gabriel von Seidl? Sie wäre nicht die Erste, die sich für den Erbauer der Villa interessierte. Nur – dafür hätte sie klingeln oder vorher anrufen oder mailen können, wie es die anderen taten.
Der Wagentyp war selten, das Nummernschild nicht zu erkennen. Auch nicht das Nationalitätenkennzeichen. Die Form der Karosserie erinnerte an ältere französische Modelle. Es musste ein Dacia sein. Das bedeutete, die Frau hatte nicht viel Geld. Vielleicht doch eine Architekturstudentin? Sie stieg jetzt in den Wagen, wendete und fuhr hinunter ins Tal. Das Länderschild konnte er immer noch nicht lesen, doch im Rückfenster lag ein blau-gelb-rot gestreiftes Kissen. Das waren die Farben Rumäniens. Wie alt mochte die Frau gewesen sein? Anfang dreißig? Er spürte, wie seine Nebennieren einen kleinen Schuss Adrenalin in seine Blutbahn pumpten und ihm Stirn und Schläfen heiß wurden. Sie war also tatsächlich gekommen. War sie eine Gefahr? Er stapfte durch den tiefen Schnee aus dem Wald. Der schwarze, bärenartige Hund lief mit wuchtigen Sprüngen voraus. Sie hatte ihr Kommen nicht angekündigt, ja nicht einmal geklingelt. Er blieb stehen und blies Kondenswolken in Richtung Schliersee. Die Frau verhielt sich nicht wie jemand, der Gutes im Sinn hatte. Eilig marschierte er zu seinem Wagen.
Sofia war von Jana, Silke und Dirk mit warmer Herzlichkeit empfangen worden. Sie hatten den Kontakt im Verlauf der zwölf Jahre verloren. Jetzt war Sofia wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht. Jana und Dirk waren zu der Zeit noch zur Schule gegangen. Es war ihr Abiturjahr. Schon damals ein inniges Paar, hatten sie Sofia auf dem Waldfest kennengelernt. Danach hatte Sofia jede freie Minute mit den beiden und deren Freunden verbracht. Einen unbeschwerten Sommer lang, bevor für sie alle das Erwachsenwerden begann.
Sofia wurde Lehrerin in Rumänien, hatte nie geheiratet und führte ein Leben am Existenzminimum. Für die Fahrt nach Deutschland musste sie von ihrem Bruder Geld leihen. Es war aber von großer Wichtigkeit, dass sie kam. Leni war tot. Das war grausam für Sofia. Auch wenn sie den letzten Brief an Leni vor sechs Jahren geschrieben hatte, hegte sie für das kleine Mädchen von damals immer noch tiefe Gefühle. Sofia hatte keine eigenen Kinder, und Leni war ihr in dem einen Jahr sehr ans Herz gewachsen. Sie hätte alles für das Kind getan und es mit ihrem Leben beschützt. Näher konnte auch eine Mutter ihrem Kind nicht sein. Es gab ein Geheimnis um Lenis Tod, das Sofia aufklären konnte, wenngleich sie noch nicht wusste, was es war. Sofia war entschlossen, es herauszufinden.
Nachdem Dirk und Jana ihrem Gast das Haus gezeigt hatten, die holzgetäfelte Bauernstube mit den alten Möbeln, die Dirk selbst restauriert hatte, die Zimmer im ersten Stock mit den Kastenfenstern, Fichtenholzböden und Ikea-Betten, schließlich die Werkstatt, in der Dirk und Jana Surfbretter nach Kundenwünschen modellierten, nachdem man Tee getrunken und Sofias Bett bezogen hatte, mussten Dirk und Jana nach Miesbach fahren. Sofia blieb zurück und wollte die Gegend erkunden. Sie sah dem Wagen ihrer Gastgeber von ihrem Zimmer aus nach, als er vom Hof fuhr.
Auf der Landstraße, in die der Schotterweg mündete, stand ein Wagen in einer Bushaltestelle. Der Fahrer des Wagens registrierte, dass ein Fahrzeug den Hof verließ. Durch sein Fernglas konnte er erkennen, dass zwei Menschen in dem Wagen saßen. Sofia war nicht dabei. Er war ihr von der Millruth-Villa bis hierher gefolgt und hoffte auf eine Gelegenheit, sie zu treffen. Doch sollte es zufällig erscheinen. Erneut richtete der Mann sein Fernglas auf den Hof. Sofia Popescu verließ in diesem Moment in Joggingkleidung das Haus und ging zu ihrem Wagen.
Der Waldweg war geräumt, der Schnee griffig. Sie erklomm mit schnellen Schritten eine leichte Steigung. Die kalte Luft rötete Sofias Wangen und biss in Stirn, Kinn und Ohren, obwohl sie eine Mütze trug. Der Himmel über den Bäumen war aus Blei, der Schnee am Boden von einem diffusen Weiß. Nur die dunklen Stämme der Bäume, die das Weiß mit dem Grau des Himmels verbanden, gaben Struktur. Sofia hörte ihren Atem und ihre Schritte auf dem harten Schnee. Darin mischte sich ganz entfernt das Geräusch eines Motors. Sofia sah sich um. Es war nichts zu sehen, und das Geräusch verstummte. Als sie sich wieder nach vorn drehte, war es wieder da. Sofia hielt an, lauschte in den Stangenwald. Wieder Stille. Um sie herum
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