Karwoche
sah alles in jeder Richtung gleich aus. Mal mehr Buchen, mal mehr Fichten. Sonst alles gleich. Baum auf Baum, gleich dick, gleich hoch. Eine gigantische Säulenhalle ohne jedes Leben darin, so schien es Sofia, und es überkam sie ein beklemmendes Gefühl. Die Ahnung, nicht allein zu sein in diesem Wald. Sie atmete schwer, versuchte, leise zu sein, um zu hören, ob noch jemand da war. Es war unfassbar still. Die Dämmerung und ein eisiger Hauch aus der Niederung kündeten vom Kommen der Nacht. Mit einem Mal flogen Krähen auf. Ein halbes Dutzend, etwa hundert Meter von Sofia entfernt. Sie fing wieder an zu laufen. Schneller dieses Mal. Sie wollte raus aus dem Wald.
Ihr Auto stand am Ende des Waldweges, wo er auf eine kleine, kaum befahrene Teerstraße traf. Aber es stand nicht alleine da. Ein Geländewagen war neben dem Dacia geparkt worden, während sie beim Laufen gewesen war. Ihr Blick streifte durch das Stangengewirr des Waldes, der Besitzer des Wagens war nicht zu sehen. Ein leises Bellen drang an ihr Ohr. Es kam aus dem Geländewagen. Sofia hörte auf zu rennen und ging jetzt mit zögernden Schritten auf die Autos zu. In dem fremden Wagen konnte sie einen riesigen schwarzen Hund ausmachen, neben dem sich in der Scheibe die Bäume spiegelten. Im Spiegelbild eine zuckende Bewegung, am Stamm eines Baumes. Sofia krampfte sich das Herz zusammen, sie blieb stehen, versuchte zu erkennen, welcher Baum des wirklichen Waldes dem zuckenden Spiegelbild entsprach. Es musste der Baum sein, dessen untere Hälfte hinter dicht stehenden jungen Fichten verborgen war. Sie musste dort vorbei, wenn sie zu ihrem Wagen wollte. Sie zögerte, überlegte, ob sie umkehren sollte. Doch das war albern. Wer sollte ihr hier in der kalten Wildnis auflauern? Sie griff in die Tasche ihrer Jogginghose und umfasste den Autoschlüssel mit der Faust, so dass er wie ein Dorn zwischen Mittel- und Ringfinger herausragte. Das hatte sie in einem Selbstverteidigungskurs für Frauen gelernt. Dann gab sie sich einen Ruck und rannte los. Keine zwei Sekunden später trat ein Mann mit Gewehr hinter den Fichten hervor und stellte sich Sofia in den Weg. Sie erschrak, blieb stehen und starrte den Mann an. Der Mann starrte seinerseits Sofia an. Verwunderung im Blick.
»Sofia?«, sagte der Mann.
Sofia atmete noch schneller, versuchte, im Dämmerlicht das Gesicht des Mannes unter der Jägerkappe zu erkennen.
»Kennst du mich nicht mehr?« Der Mann trat einen Schritt auf Sofia zu. Ja, sie kannte ihn. Die Angst fiel wie ein Stein von ihr ab.
»Hallo«, sagte Sofia. »Was machst denn du hier?«
»Hier soll es irgendwo einen Sechzehnender geben.« Sofia sah den Mann verständnislos an. »Das ist ein Hirsch. Mit einem großen Geweih.«
»Ah! Er hat sechzehn …« Ihr fiel das Wort nicht ein. Ihr Deutsch war etwas rostig geworden.
»Spitzen«, half der Mann.
»Spitzen. Genau.« Sofia lächelte. Der Mann lächelte auch.
»Bist du schon lange hier?«
»Nein, ich bin heute gekommen.«
»Verstehe. Du wirst uns doch bestimmt besuchen?«
»Ja, sicher. Ich werde euch besuchen. Ich wohne bei Jana und Dirk.«
Der Mann schien sich nicht zu erinnern.
»Ich habe damals viel mit ihnen gemacht. Sie waren noch in der Schule.«
»O ja. Ich erinnere mich. Die beiden waren sehr nett.« Er sah sie prüfend an, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Du weißt, was passiert ist?«
»Du meinst … Leni.«
»Ja.«
»Ich … ich habe davon gehört. Wie ist es passiert?«
»Eine schlimme Geschichte. Leni war sehr krank.« Er legte eine Hand auf sein Herz. »Ihre Seele war krank. Ich kann dir davon erzählen. Aber vielleicht in Ruhe.«
»Wenn ich zu euch komme?«
»Wir können uns auch alleine treffen.«
Sofia blickte ihn fragend an.
»Ich schlage das vor«, sagte der Mann, »weil die meisten bei uns im Haus nicht darüber reden wollen. Es ist zu frisch und tut noch zu weh. Ich glaube, Katharina hat es immer noch nicht wirklich begriffen. Wir sollten uns irgendwo anders treffen.«
Sofia nickte. Vielleicht wäre das keine schlechte Idee.
»Du kannst natürlich trotzdem vorbeikommen. Sollen wir uns vorher verabreden?«
»Ja. Ich muss dich auch ein paar Dinge fragen.«
»Was denn?«
»Es geht um … Leni. Ich bin gekommen, weil ich etwas wissen muss.«
»Aha?«
»Darüber reden wir in Ruhe, okay?«
»Natürlich. Du hast ein Handy?«
Sofia nickte. Nachdem sie ihre Handynummern ausgetauscht und sich für den übernächsten Tag verabredet hatten, stieg
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