Kassandra Verschwörung
hinein.
Sie blieb einen Moment stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit im Innern der Geisterbahn gewöhnt hatten. Die Türen dämpften die meisten Außengeräusche. Schließlich fühlte sie sich sicher genug weiterzugehen, vorbei an den spindeldürren mechanischen Geistern und Kobolden, den Drähten und Flaschenzügen, aus denen Bastschnitzel auf die Köpfe der jungen Geisterbahnfahrer hinabrieselten, vorbei an dem Skelett, das jetzt ruhte, und aufspringen würde, sobald sich ein Wagen näherte.
Es war alles so billig, so offensichtlich. Sie konnte sich nicht erinnern, sich je in der Geisterbahn gegruselt zu haben, nicht einmal als kleines Mädchen. Sie ging jetzt tiefer in das enge Innere der Bahn hinein, weg von den Schienen und dem Frankenstein aus Pappmaché und den Fäden, die Spinnengewebe darstellen sollten, bis sie hinter einem schwarzen Stück Stoff einen Lichtschimmer sah. Sie steuerte darauf zu, schob den Stoff zur Seite und trat in das düstere Licht des winzigen, behelfsmäßigen Raums.
Die junge Frau, die dort daumenlutschend und vor sich hin summend saß, blickte auf. Sie hockte im Schneidersitz auf dem Boden und schaukelte leicht vor und zurück; auf dem Schoß hatte sie einen kleinen armlosen Teddybären, vor ihr auf dem Boden lagen ausgebreitet Tarotkarten.
»Er war da«, sagte Gypsy Rose. Sie holte den Umschlag unter ihrem Rock hervor. Vom Klettern über die Kette war er leicht zerknittert. »Ich habe ihn nicht geöffnet«, fügte sie hinzu.
Der Daumen flutschte nass aus dem Mund. Die junge Frau nickte, dann bog sie ihren Hals nach hinten und drehte ihn mit weit geöffnetem Mund langsam zur Seite, bis ein lautes Knacken zu hören war, das klang wie zerbrechende Zweige. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr langes schwarzes Haar. Über ihren Schläfen hatte sie zwei weiß gefärbte Strähnen. Sie war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Sie verliehen ihr etwas Geheimnisvolles, ließen sie aber auch alt aussehen. Doch sie wollte nicht alt aussehen.
»Setz dich«, sagte sie und deutete mit einem Nicken auf einen niedrigen Hocker, die einzige Sitzgelegenheit in dem Raum. Gypsy Rose nahm Platz. Die junge Frau schob sorgfältig die Tarotkarten zusammen und nahm sie mit ihren langen Fingernägeln von der auf dem Boden ausgebreiteten Plane auf. Sie trug einen langen, schwarzen, mit Fransen gesäumten Rock, eine weiße Bluse mit offenem Kragen und darüber eine schwarze Weste. Sie wusste , dass sie geheimnisvoll wirkte. Deshalb spielte sie auch mit den Tarotkarten. Ihr Schlafsack lag zusammengerollt an der hinteren Wand. Nachdem sie die Karten eingesammelt und zurück in die Schachtel gelegt hatte, warf sie diese hinüber zu ihrem Schlafsack, nahm der alten Frau den Umschlag ab und schlitzte ihn mit einem ihrer Fingernägel auf.
»Arbeit«, sagte sie und breitete den Inhalt vor sich auf dem Boden aus: maschinengeschriebene Seiten, Schwarzweißfotos im Dreizehn-mal-achtzehn-Format, die auf den Rückseiten mit Bleistift beschriftet waren, und das Geld. Die Scheine wurden von zwei Banderolen zusammengehalten. Sie riss sie auf, fächerte die Scheine auseinander und wedelte mit ihnen herum. »Ich muss wieder weg«, sagte sie.
Gypsy Rose Pellengro, die von dem Geld wie hypnotisiert gewesen zu sein schien, legte jetzt Widerspruch ein.
»Aber diesmal bleibe ich nicht lange weg. Ein oder zwei Tage. Bist du dann noch hier?«
»Am Sonntagnachmittag bauen wir ab.«
»Wohin geht es dann?«
»Nach Brighton.« Eine Pause. »Du passt doch auf dich auf, oder?«
»Aber ja«, erwiderte die junge Frau. »Ich passe auf. Ich passe immer auf.« Sie hielt der älteren Frau eines der Fotos hin. »Wie findest du ihn?«
»Sieht gut aus«, stellte Gypsy Rose fest. »Ein asiatischer Gentleman.«
»Richtig.«
»Der Mann, der den Umschlag gebracht hat, war auch Asiate.«
Die Hexe nickte und las sich in Ruhe die Anweisungen durch. Gypsy Rose saß mucksmäuschenstill da; sie wollte nicht stören, war einfach nur froh, hier zu sein. Sie warf erneut einen Blick auf das Geld. Schließlich steckte die junge Frau alles zurück in den Umschlag. Dann griff sie nach der Schachtel mit den Tarotkarten und warf sie Gypsy Rose Pellengro in den Schoß.
»Hier«, sagte sie. »Nimm die Karten.« Draußen war ein Schrei zu hören. Der Schrei eines Mädchens. Vielleicht war das der Anfang eines Streits. Womöglich der erste heute Nacht, aber es würde nicht der letzte sein. »Und jetzt, Rosa, sag es mir. Sag mir, was du
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