Kassandra Verschwörung
»Ich glaube, das fragen Sie Dominic Elder am besten selbst, meinen Sie nicht auch?«
Einmal im Jahr war Kirmes in Cliftonville.
Cliftonville hielt sich selbst gern für das vornehme Äquivalent seines unmittelbaren Nachbarorts Margate. Cliftonville zog Busreisende an, Rentner. Die jüngeren Urlauber bevorzugten normalerweise Margate. Das Gleiche galt für die Wochenendausflügler, die aus London kamen, um sich ein wenig in den Küstentrubel zu stürzen. Doch Cliftonville kämpfte mit einem anderen Problem, einer Identitätskrise. Das nachmittägliche Bingo und ein Liegestuhl auf der Promenade während man dem Kurkonzert lauschte, war einfach nicht mehr genug. Zuckerwatte und Spielhallen mit einarmigen Banditen reichten nicht mehr aus. Zu viel in dem Städtchen war in den fünfziger Jahren stecken geblieben. Nur wenige wünschten sich das Gekreische und den Glitter der Achtziger- und Neunzigerjahre zurück, doch ohne dies würde die Stadt sterben, genauso wie ihre Gäste.
Falls der Stadtrat sich ernsthaft über eine Überlebensstrategie hätte kundig machen wollen, hätte er die Leute auf der Kirmes fragen können. Dort hatte sich auch einiges verändert. Die Karussells waren etwas »rasanter« geworden – und teurer. Barnabys Schießbude war ein gutes Beispiel. Der ursprüngliche Barnaby (dessen richtiger Name Eric war) hatte mit Korken geladene Gewehre gehabt, mit denen mittels Luftdruck auf bunte Dosen geschossen wurde. Doch Barnaby war 1978 gestorben. Sein Bruder Randolph hatte diese Korkengewehre durch Gewehre ersetzt, die mit richtigen Kugeln geladen wurden, und runde Zielscheiben an menschlichen Silhouetten angebracht. Doch dann war Randolph dem Alkohol und dem Charme einer Frau verfallen, die die Kirmes hasste, woraufhin sein Sohn Keith, der jetzige Barnaby, das Geschäft übernahm. Heutzutage rühmte sich die Schießbude echter Unterhaltung mit einem automatischen Luftgewehr, das mit einer Kompressionspumpe ausgestattet war. Dieses Maschinengewehr konnte hundert großkalibrige Kugeln pro Minute abfeuern. Man musste nur den Abzug durchgedrückt halten. Für die schiere Freude, die es bedeutete, eine Minute lang hautnah das tödliche Geballer zu erleben, blätterten die jungen Männer gern ihr Geld hin. Nach der Ballerorgie wurde die Zielscheibe dann nach vorn geholt. Keith benutzte immer noch Pappscheiben mit von außen nach innen verlaufenden Ringen und dem kleinen schwarzen Punkt in der Mitte, die er an das Herz einer Menschenattrappe heftete. Der Haken an der Automatikwaffe war nur der, dass sie nicht präzise traf. Wenn genügend Kugeln auf die Schießscheibe prallten, war sie zerfetzt. Doch viel häufiger kam es vor, dass die Kids die Scheibe, verdattert vom Rückstoß, dem Lärm und der Schießgeschwindigkeit, verfehlten.
Je verdatterter sie waren, desto wahrscheinlicher war es, dass sie wiederkamen und mehr wollten. Man konnte davon leben. Und dennoch war die Kirmes in anderer Hinsicht nach wie vor ein sehr altmodischer Ort. Es gab die unvermeidliche Geisterbahn, wobei diese Geisterbahn heute Abend geschlossen war. Es roch nach Zuckerwatte und Diesel, im Hintergrund der kratzige Sound der fast allerneuesten Popsongs. Zwiebelgeruch, das Dröhnen von Maschinen und drei Bälle für fünfzig Pence an den Wurfbuden für die Kinder.
Gypsy Rose Pellengros kleiner Wohnwagen war immer noch an den Volvo Kombi gekoppelt, als ob sie gleich abfahren wollte. An einem Brett vor der Wohnwagentür waren Dankesschreiben dankbarer Kunden angepinnt. Die Briefe sahen ziemlich verblichen aus, und kein einziger schien mit einem Datum versehen zu sein. Neben den Briefen hing eine hingekritzelte Nachricht: »Gypsy Rose in einer Stunde zurück«.
Die beiden Fenster des Wohnwagens waren fest verschlossen und mit dicken Tüllgardinen verhüllt. Drinnen sah es ähnlich aus wie in jedem x-beliebigen Ferienwohnwagen. In dem kleinen Spülbecken lagen noch zwei schmutzige Teller, und auf dem Tisch stand keine Kristallkugel, sondern ein tragbarer Schwarzweißfernseher, der an die Batterie des Volvo angeschlossen war. Die an der Wand angebrachten und mit dem Gas beleuchteten Lampen zischten vor sich hin. Eine Frau sah fern.
Es klopfte an der Tür.
»Kommen Sie bitte rein, Sir!«, rief sie und erhob sich, um den Fernseher auszuschalten. Die Tür wurde aufgezogen, und ein ziemlich junger, sehr schlanker und dunkelhäutiger Mann stieg in den Wohnwagen. Er war so groß, dass er sich ducken musste, um nicht an die Decke zu
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