Kassandra Verschwörung
siehst. Erzähl mir von meiner Mutter.«
Gypsy Rose starrte das Päckchen Tarotkarten an, nicht gewillt, es aufzuheben. Die junge Frau steckte erneut den Daumen in den Mund und begann wieder zu summen und mit dem Teddybären auf dem Schoß vor- und zurückzuschaukeln. Draußen schrie immer noch jemand. Gypsy Rose berührte die Schachtel und öffnete mit dem Daumen die Lasche. Dann nahm sie langsam die Karten heraus.
Freitag, 5. Juni
Greenleaf erschien früh im Büro. Er hatte den späten Nachmittag und den Abend des Vortags in Folkestone verbracht, war Leuten auf die Nerven gegangen und hatte sich keine Freunde gemacht, doch am Ende verfügte er über alle Informationen, die er brauchte, Informationen, an die er durch bloßes Telefonieren allein nicht herangekommen wäre. Er hatte mit George Cranes Witwe gesprochen, mit Brian Perchs Eltern, Cranes Buchhaltern, mit Leuten, die die Männer kannten, und mit anderen Bootsführern. Er hatte die Küstenwache, die örtliche Polizei, die Beamten von der Spurensicherung und den Pathologen befragt. Er hatte viel zu tun gehabt – so viel, dass er Folkestone erst um zweiundzwanzig Uhr verlassen konnte und dank eines Staus auf der M20 und der Sperrung des Blackwall-Tunnels schließlich kurz vor Mitternacht zu Hause in Edmonton ankam. Shirley hatte sich schlafend gestellt, doch die ausgeschaltete Nachttischlampe war noch heiß gewesen, ihr Buch hatte sie unter das Kopfkissen geschoben.
»Wie spät ist es?«, hatte sie gemurmelt.
»Zehn nach zehn.«
»Verdammter Lügner.«
»Dann hör gefälligst auf, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.«
Für einen Streit war es wirklich zu spät gewesen. Die Nachbarn hatten sich schon einmal beschwert. Also hatten sie sich darum bemüht, es scherzhaft zu nehmen und keine große Sache daraus zu machen. Was ihnen gerade so gelungen war.
Als Friedensangebot hatte er ihr heute Morgen das Frühstück ans Bett gebracht, obwohl er selbst zum Umfallen müde war. Und die Fahrt ins Büro hatte ihn auch nicht gerade aufgemuntert. Ein Autounfall in Finsbury Park und ein liegen gebliebener Bus hatten den gesamten Verkehr zwischen Oxford und Warren Street lahmgelegt. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als auf dem Stadtplan nach sinnlosen Abkürzungen zu suchen und sich zu schwören, von jetzt an mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren. Guter alter öffentlicher Nahverkehr: ein strammer morgendlicher Spaziergang zur Bushaltestelle, direkt mit dem Bus bis Seven Sisters, dann in die Victoria Line, die ihn zügig zur Victoria Station bringen würde, und zum Schluss noch ein kurzer Fußmarsch zum Büro. Guter alter öffentlicher Nahverkehr.
Nur dass er es ein paar Mal auf diese Weise versucht und es leider nicht so funktioniert hatte. Angefangen bei dem halben Dutzend vollgestopfter Busse, die ohne anzuhalten an seiner Haltestelle vorbeirauschten, bis hin zu dem überfüllten, nach Schweiß stinkenden U-Bahn-Waggon und dem Gefühl, dass er den nächsten Mitreisenden umbringen würde, der ihm seinen Ellbogen in die Seite rammte... Guter alter öffentlicher Nahverkehr. Das Londoner Beförderungssystem. Er würde weiter mit dem Auto fahren. Im Auto hatte man wenigstens die Wahl . Wenn man in einen Stau geriet, konnte man irgendwo anhalten und ihn in einem Café aussitzen oder eine andere Strecke versuchen. Aber in der U-Bahn in einem Tunnel festzustecken … tja, das war ein Vorgeschmack auf die Hölle.
Er dachte an Doyle, der jetzt in aller Ruhe gemütlich bei Croissants und Kaffee in einer französischen Bar saß, bevor er sich aufmachen würde, seine Vorräte an billigem Bier und Duty-free-Ware aufzustocken. Mistkerl. Doch Doyle war nützlich. Oder besser gesagt: Greenleafs Abneigung gegenüber Doyle war nützlich: Sie spornte ihn an. Sie sorgte dafür, dass er sich ins Zeug legte, seine Arbeit effizient zu verrichten, und das schloss auch seine Berichte ein – der Grund dafür, dass er so früh im Büro war. Er wollte seine Aufzeichnungen abtippen und in eine Form bringen, in der er sie Trilling noch vor der Mittagspause präsentieren konnte.
Im Wesentlichen hatte Doyle richtiggelegen. Der Pathologe hatte Verbrennungen festgestellt, Brandflecken auf den Körpern beider Männer. Ein rasiermesserscharfes Stück Plastik hatte Crane beinahe den Kopf abgetrennt. Des Weiteren hatte er in beiden Leichen Splitter und Scherben gefunden – aus Holz, Glas, Metall und Plexiglas. Eindeutige Hinweise auf eine Explosion.
»Irgendwo unter ihnen«, hatte der
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